Der Herr von Moor House
Warum wäre er sonst nach Indien geflohen und jahrelang dort geblieben? Sicher nur, um seine Trauer zu überwinden …
Ob ihm das gelungen war, ließ sich nicht beurteilen. Seine äußere Erscheinung hatte sich verändert. Giles sah einen zynischen Zug um die schmalen Lippen, den er früher nicht entdeckt hatte. Aber Christian bewies immer noch das gleiche Verantwortungsbewusstsein wie eh und je. Zudem besaß er die Gabe, in allen seinen Untergebenen unwandelbare Loyalität zu wecken. Die Feldarbeiter waren ihm ebenso treu ergeben wie die Hausdiener, was der Butler Wilks jetzt erneut bekundete, indem er versprach, das Personal würde erst wieder schlafen gehen, wenn es sämtliche Räume durchsucht und den Fensterladen der Spülküche repariert habe.
“Also ist der ungebetene Gast durch die Spülküche eingedrungen?”, fragte Giles, als er seinem Bruder in die Halle folgte.
Christian nickte. “Dort fanden wir schlammige Fußspuren am Boden. Offenbar sind die Handwerker noch nicht dazu gekommen, das Fenster instand zu setzen. Mit einem dünnen Gegenstand ließ sich der Riegel mühelos beiseiteschieben.”
“Vielleicht
damit
?” Giles zog das Messer aus der Tasche, und sein Bruder nahm es in die Hand.
“Wo hast du es gefunden?” Forschend betrachtete Christian die acht Zoll lange schmale Klinge, die aus einem Elfenbeingriff ragte.
“Neben Megans Kommode.”
“Hm … Sehr interessant. Gehen wir in die Bibliothek”, schlug Christian vor. “Sicher wird uns ein Brandy helfen, wieder einzuschlafen.” Seine Stimme klang beiläufig, aber Giles wusste, dass sein Bruder besorgt war.
“Wie ich gestehen muss, war ich nicht sonderlich erfreut, als ich von einem schrillen Schrei geweckt wurde.” In der Bibliothek angekommen, sank Giles in einen der bequemen Sessel und nahm ein gefülltes Glas entgegen. “Zuerst dachte ich, ein hysterisches Dienstmädchen hätte eine Maus entdeckt.”
“Diese Möglichkeit ging auch mir durch den Sinn. Aber dann merkte ich, woher der Schrei kam. Und Megan würde niemals so viel Aufhebens machen, wenn es keinen triftigen Grund gäbe.” Christian nahm gegenüber seinem Bruder Platz und studierte das Messer etwas genauer. Auf der glänzenden Schneide zeigte sich kein einziger Kratzer. “Falls der Eindringling uns nur bestehlen wollte – warum ist er in den Oberstock geschlichen? Im Erdgeschoss hätte er genug Wertgegenstände gefunden. Aber angesichts dieses Messers müssen wir uns fragen, ob er in Megans Zimmer einen bestimmten Zweck verfolgt hat.”
“Wer, um alles in der Welt, sollte ihr nach dem Leben trachten?” Als Giles keine Antwort erhielt, schaute er von seinem Glas auf und begegnete Christians vielsagendem Blick. “Oh Gott – du glaubst, er hatte es auf mich abgesehen? Weil ich dieses Zimmer normalerweise bewohne?”
“Möglich wäre es. Außer den Dienstboten weiß niemand, dass wir Megan dort einquartiert haben.”
Plötzlich wurde Giles’ Mund trocken. “Und – wer will mich ermorden?”
“Das hoffe ich herauszufinden.” Unerschütterlich wie immer, hob Christian die Brauen. “Könnte ein zorniger Vater oder Bruder eines verführten Mädchens auf Rache sinnen?”
“Ganz sicher nicht!” Um sich zu beruhigen, leerte Giles sein Glas. “Nun ja, ich habe mich ein bisschen amüsiert. Welcher temperamentvolle Mann tut das nicht? Aber ich bin kein verantwortungsloser Schürzenjäger.”
“Was mich sehr erleichtert …”
Erbost über die ironische Bemerkung, ging Giles zum Gegenangriff über. “Wenn der Verwandte eines entehrten Mädchens Blut vergießen will, müsste er sich eher an
dich
wenden. Deine Affären sind kein Geheimnis.”
In übertriebener Verblüffung runzelte Christian die Stirn. “Gab es während der letzten Jahre in England so wenig Skandale, dass die Klatschmäuler ihre Informationen aus Indien beziehen mussten?”
“Hör mal, Chris, das ist nicht komisch”, erwiderte Giles, der seine Indiskretion bereits bereute.
“Nein, allerdings nicht. Eins kann ich dir versichern. Was immer dir auch zu Ohren kam – ich habe mich nie mit unschuldigen Mädchen eingelassen, nur mit erfahrenen Frauen, die sich an die Spielregeln hielten.”
“Natürlich – verzeih mir …” Nicht zum ersten Mal fühlte sich Giles in Christians Gegenwart wie ein dummer Schuljunge. “Können wir also Rache als Tatmotiv ausschließen?”
“Nicht unbedingt.” Christian stand auf, ergriff die Karaffe, die auf einem Wandtischchen stand, und füllte sein
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