Der Hintermann
aussagen, äußerlich sei ihm nichts anzumerken gewesen, obwohl der Inhaber eines beliebten Blumengeschäfts behauptete, ihm sei aufgefallen, mit welch entschlossenem Schritt Kadir auf den Restauranteingang zumarschiert sei. Zu den davor Stehenden gehörten der Staatssekretär im Justizministerium, ein Nachrichtensprecher eines französischen Fernsehsenders, ein Model, das die gegenwärtige Ausgabe der Zeitschrift Vogue zierte, eine bettelnde Zigeunerin mit ihrem Kind an der Hand und eine fröhlich plappernde Gruppe japanischer Touristen. Der Selbstmordattentäter sah ein letztes Mal auf die Uhr. Dann zog er den Reißverschluss seiner Daunenjacke auf.
Ob der Anschlag durch den traditionellen Ruf »Allahu akbar!« angekündigt wurde, ließ sich nie genau klären. Einige Überlebende behaupteten, ihn gehört zu haben. Andere schworen, der Attentäter habe seinen Sprengsatz wortlos gezündet. Was den Klang der Detonation selbst betraf, hatten die Menschen, die am nächsten gestanden hatten, keine Erinnerung daran. Ihre Trommelfelle waren zu stark geschädigt. Einer wie der andere erinnerte sich an einen blendend weißen Lichtblitz. Das Licht des Todes, so nannte ihn jemand. Das Licht, das man in dem Augenblick sieht, in dem man Gott zum ersten Mal gegenübertritt.
Die Bombe selbst war konstruktiv und baulich ein kleines Wunderwerk an Präzision. Dies war kein Sprengsatz nach einer Anleitung aus dem Internet oder einer der Broschüren, die in Salafistenmoscheen in Europa kursierten. Er war bei Kampfeinsätzen in Palästina und im Irak perfektioniert worden. Verstärkt wurde seine Sprengwirkung durch in Rattengift eingelegte Nägel – ein Trick, der den Selbstmordattentätern der Hamas abgeschaut war –, die wie eine Kreissäge durch die Menge schnitten. Die Detonation war so gewaltig, dass ihre Druckwelle die fast zweieinhalb Kilometer östlich gelegene Pyramide im Louvre erzittern ließ. Alle Personen in unmittelbarer Nähe des Attentäters wurden in Stücke gerissen, halbiert oder geköpft – die bevorzugte Strafe für Ungläubige. Noch in vierzig Schritt Entfernung verloren Menschen Gliedmaßen. Am äußersten Rand der Todeszone schienen die Toten unversehrt. Äußerlich vom traumatischen Erlebnis verschont, waren sie an der Druckwelle gestorben, die in ihren inneren Organen wie ein Tsunami gewütet hatte. Ein gnädiges Schicksal hatte es ihnen erlaubt, unbemerkt zu verbluten.
Die ersten am Tatort eintreffenden Gendarmen erblickten Schreckliches. Abgerissene Gliedmaßen bedeckten das Pflaster gemeinsam mit Schuhen, um 11.46 Uhr stehengebliebenen zertrümmerten Armbanduhren und Handys, von denen einige vergebens klingelten. Wie um die Opfer zu verhöhnen, waren die sterblichen Überreste des Attentäters zwischen ihnen verteilt – bis auf dessen Kopf, der mindestens dreißig Meter entfernt auf einem Lieferwagen gelandet war. Kadirs Gesichtsausdruck wirkte eigenartig heiter.
Der französische Innenminister war binnen zehn Minuten nach der Detonation am Tatort. Beim Anblick des Massakers rief er aus: »Bagdad ist in Paris angekommen!« Siebzehn Minuten später kam es nach Kopenhagen in den Vergnügungspark Tivoli, wo sich um 12.03 Uhr ein Selbstmordattentäter mitten in einer Kindergruppe, die ungeduldig an der Achterbahnkasse anstand, in die Luft sprengte. Der dänische Sicherheits- und Nachrichtendienst PET ermittelte rasch, dass der Schahid in Kopenhagen geboren, dort zur Schule gegangen und mit einer Dänin verheiratet gewesen war. Dass seine eigenen Kinder auf dieselbe Schule wie die Opfer gingen, schien ihn nicht gestört zu haben.
Für Sicherheitsexperten in ganz Europa war dies die Verwirklichung eines albtraumhaften Szenarios: koordinierte und raffiniert ausgeführte Angriffe, die offenbar von einem erfahrenen Spezialisten organisiert und geleitet worden waren. Sie fürchteten, die Terroristen würden bald wieder zuschlagen, aber zwei wichtige Informationen fehlten ihnen. Sie wussten nicht, wo. Und sie wussten nicht, wann.
3
S T . J AMES ’ S , L ONDON
Später würde die Abteilung Terrorismusbekämpfung der Londoner Metropolitan Police viel wertvolle Zeit und Ressourcen in den Versuch stecken, die Bewegungen von Gabriel Allon, dem legendären, aber eigenwilligen Sohn des israelischen Geheimdiensts, der jetzt offiziell pensioniert war und unauffällig in Großbritannien lebte, an diesem Vormittag zu rekonstruieren. Aus den Aussagen neugieriger Nachbarn war bekannt, dass er sein Cottage in
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