Der Hirte (German Edition)
Einmal hatten sie ihn fast bis hierher verfolgt. Nur das Gewitter, das schon den ganzen Tag über dem Hunsrück gehangen war und ausgerechnet in diesen Minuten mit einem ungeheuren Platzregen losgebrochen war, hatte ihn gerettet – die Verfolger hatten aufgegeben. Rainald erinnerte sich an die Stimmen: ‚Ich kann die Hand nicht vor Augen sehen! … Wo steckt der Schweinekerl? … Hoffentlich erschlägt ihn der Blitz! … Hoffentlich holt ihn der Teufel, so wie er seine Alte geholt hat!’ Die Verfolger waren angeheuerte Söldner gewesen, nicht aus der Gegend, nicht einmal aus der Stadt. Wer hierher gehörte, hätte anders von Rainalds Frau gesprochen – oder vielleicht auch nicht? Erinnerungen waren kurzlebig. ‚Kommt her, dann stopf ich euch das Maul!’, hatte Rainald gedacht, nur wenige Dutzend Schritte weiter hinter einem Baum versteckt, das Schwert halb gezogen. Doch insgeheim war er erleichtert gewesen, dass die Männer sich zurückgezogen hatten.
Rainald blieb stehen. Er horchte in das lautlose Fallen des Schnees hinein, dann drehte er sich zu Johannes um. Der Junge zuckte mit den Schultern.
„Na gut“, knurrte Rainald. Er ließ sein Bündel zu Boden gleiten und zog das Schwert. Blanka starrte ihn mit offenem Mund an. Johannes zerrte seine Schwester zu sich heran und packte den Griff des kleinen Schwerts, das Rainald ihm zu seinem achten Geburtstag hatte anfertigen lassen. Ein neuer Schwall bitteren, wütenden Spotts stieg in Rainald hoch. Schneid dich nicht, du Memme , dachte er.
Rainald holte Atem. „Wenn hier jemand ist, soll er rauskommen!“, brüllte er. Blanka zuckte zusammen. Der Winterwald schwieg. Rainald drehte sich einmal langsam mit erhobenem Schwert um sich selbst.
„Komm schon!“, brüllte er erneut. „Ich will, dass du dich zeigst!“
Als er am Ende seiner Drehung angekommen war, stand der Schatten auf dem Weg.
***
„Und was, wenn Ihr uns nicht gefunden hättet?“
„Ihr habt mich gefunden, nicht ich euch.“
„Das ist eine Spitzfindigkeit und beantwortet meine Frage nicht.“
„Gott der Herr hat uns zusammengeführt.“
„Das beantwortet meine Frage genauso wenig.“
„Du darfst sie nicht drängeln, Papa, sie ist eine heilige Frau.“
Rainald seufzte, aber er schwieg. Das Gesicht der jungen Klosterschwester, die sich auf Rainalds Bündel hatte sinken lassen, war bleich, ihre Lippen blau und ihre Nase rot und wund. Sie sah aus, als wäre sie bereits einen halben Tag tot im Schnee gelegen. Rainald war sicher, dass ihr dieses Schicksal bestimmt gewesen wäre, wenn er und seine Kinder nicht hier entlang gekommen wären. Nun hatte sie vermutlich einen weiteren Tag herausgeschunden, bevor sie doch noch im Schnee endete. Danke, Gott, für ein paar mehr Stunden in diesem jämmerlichen Leben. Rainald dachte an die Wölfe.
„Ich bin keine heilige Frau, meine Kleine“, sagte die Klosterschwester und lächelte schwach. „Ich versuche nur die Arbeit zu verrichten, die die Heiligen uns hinterlassen haben.“
Blanka lächelte schüchtern zurück. Für einen Augenblick klammerten sich die Blicke der beiden Augenpaare ineinander, und Rainald hätte schwören mögen, dass sich das Gesicht der Schwester unversehens mit ein bisschen mehr Leben füllte und plötzlich jünger wirkte. Du lieber Gott, dachte er, so eine bist du. Lasset die Kindlein zu mir kommen, weil ich selber nie welche haben kann. Er schämte sich für die Abneigung, die in ihm hochstieg.
„Wir können Euch etwas Brot abgeben“, zwang er sich zu sagen.
„Wir haben Euch weinen gehört“, sagte Johannes gleichzeitig.
„Ich habe nicht geweint, mein Junge“, sagte die Schwester. Sie musterte Johannes freundlich. Rainalds Sohn wurde rot.
„Wir haben es gehört“, beharrte er.
„Ich habe nicht geweint. Ich hatte Angst, aber ich war zuversichtlich, der Herr würde mir helfen.“
„Der Herr hilft nur denen, die sich selber helfen“, hörte Rainald sich sagen.
Sie richtete ihr Lächeln auf ihn. „Richtig. Deshalb habe ich mich auch nicht in den Schnee sinken lassen und selbst aufgegeben, sondern bin einfach weitergegangen, obwohl ich mir nichts mehr wünschte, als mich hinzusetzen.“
„Eine kurze Strecke weiter ist eine Kapelle.“ Rainald deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Da könnt Ihr unterschlüpfen und Euch ausruhen, bis Hilfe kommt.“
„Aber da wagt sich doch heute niemand mehr hin!“, protestierte Johannes.
„Wieso? Es ist Weihnachten, da gehen selbst die Bauern in die Kirche“, sagte
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