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Der Hirte (German Edition)

Der Hirte (German Edition)

Titel: Der Hirte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Kloster von Sankt Irminen“, sagte Dielsdorfer und hämmerte gegen die Klosterpforte.
„Ich bin Bürgermeister Dielsdorfer“, sagte er. „Ich muss die Mutter Oberin sprechen.“
Die Riegel des Klosters scharrten, und die Pforte öffnete sich. Rainald folgte dem Bürgermeister in einen Vorraum, hörte zu, wie Dielsdorfer in ein vergittertes Fenster hineinsprach.
„Wir müssen zur Einsiedlerin“, sagte Dielsdorfer. „Es ist dringend, Mutter Oberin.“
„Sie wird euch nicht empfangen“, sagte eine Stimme hinter dem Fenster.
Dielsdorfer schwieg. Der helle Fleck des Gesichts hinter dem Gitter verschwand.
„Vor zwanzig Jahren“, sagte Dielsdorfer, „war eine kleine Gesellschaft durch den Wald unterwegs zur Stadt. Es war der Weihnachtstag. Es war bitterkalt, der Schnee lag hoch, und ein Wolfsrudel machte die Gegend seit Wochen unsicher. Die Stadt hatte Gruppen von Bewaffneten ausgesandt, um die Reisenden, die erwartet wurden, in Sicherheit zu bringen. Die Gruppe bestand aus einigen Klosterschwestern und den Kindern von drei, vier Familien hier aus der Stadt.“
Dielsdorfer seufzte.
„Alles, was die Stadtknechte fanden, war eine junge Klosterschwester. Sie war allein und irrte halb besinnungslos im Wald umher, die Kutte zerrissen und voller Blut. Sie brachten sie zurück in die Stadt. Es stellte sich heraus, dass die Gruppe von Wölfen angegriffen worden war. Die junge Klosterschwester konnte als einzige fliehen; alle anderen fielen den Tieren zum Opfer.“
Die Tür, in der das vergitterte Fenster saß, öffnete sich, und eine ältere Schwester mit einer Laterne in der Hand sah Dielsdorfer und Rainald ohne Neugier an.
„Folgt mir“, sagte sie.
Vor einer Zelle in einem ansonsten vollkommen verlassen scheinenden Gang blieb sie stehen.
„Sie wird nicht öffnen“, sagte sie. „Sie hat zwanzig Jahre lang diese Tür nicht geöffnet. Was sie zum Leben brauchte, haben wir durch diese Klappe hineingereicht. Sie hat zwanzig Jahre kein Wort gesprochen, außer im Gebet.“
Dielsdorfer machte eine auffordernde Geste. Die Oberin klopfte an der Zellentür.
„Schwester Venia?“, fragte sie.
Rainald erstarrte. Sein Mund öffnete sich.
„Macht auf, Mutter Oberin“, sagte Dielsdorfer sanft. „Ich bin sicher, sie hat nichts dagegen.“
Die Oberin sah von Dielsdorfer zu Rainald und zurück. Etwas, das sie in beiden Gesichtern sah, ließ ihren Widerstand erlöschen. Sie wählte einen Schlüssel an ihrem Bund und sperrte die Tür auf. Sie schwang nach innen auf in eine dunkle Zelle.
Rainald fühlte, wie eine Hand seinen Arm ergriff. Dielsdorfer sah zu ihm auf. „Denkt daran: Gott hat sie zu euch geschickt“, sagte er.
Rainald folgte der Oberin und dem Licht der Laterne. Auf der Pritsche lag eine schmale, stille Gestalt. Rainald sah die eingefallenen Wangen, die leicht geöffneten, blauen Lippen, die Schatten um die geschlossenen Augen. Die Hände waren abgemagert und lagen gefaltet auf ihrem Schoß, gehalten von einem Rosenkranz. Er trat näher, ohne es zu bemerken. Das Licht von der Laterne goss warmes Licht über das wächserne Gesicht und täuschte Wärme und Leben vor, verwischte die Falten und machte es jünger.
„Lauf weiter und vertraue“, sagte Rainald halblaut.
„Schwester Venia“, flüsterte die Oberin und machte das Kreuzzeichen. „Der Herr erbarme sich deiner.“
Rainald sah auf Schwester Venia hinab. Es war nicht schwer, ihr Gesicht unter dem der frühzeitig gealterten Frau zu sehen, deren Leichnam auf der Pritsche lag. Sie hatte geahnt, dass sie sterben würde. Sie hatte sich zurechtgelegt, den Rosenkranz um die Hände gewickelt, die Augen geschlossen und ihre Seele dem Herrn empfohlen – ganz allein, in der dunklen Zelle am Ende des Klosters, und ohne dass es ihren Mitschwestern aufgefallen wäre. Schon zeigten sich die Knochen unter ihrem Gesicht.
„Jeder sagte, dass es nicht ihre Schuld war und dass sie den anderen nicht hätte helfen können, wenn sie nicht geflohen wäre; dass sie mit den anderen umgekommen wäre. Sie jedoch konnte sich selbst nicht verzeihen, dass der Mut sie verlassen hatte, und sie glaubte auch nicht, dass Gott oder alle anderen um sie herum ihr wirklich vergeben hätten. Sie bat um eine Einzelzelle hier in Sankt Irminen, zog die Tür hinter sich zu, und das war das Letzte, was irgendjemand von ihr gesehen hat.“ Dielsdorfer wies auf den Leichnam. „Bis heute.“
„Sie muss gestern Nacht gestorben sein; oder im Lauf des gestrigen Tags“, sagte Rainald. „Selbst wenn sie

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