Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
4. April 1841
Die grauen Mauern des Millbank-Gefängnisses wurden immer kleiner, bis sie nur noch einen dunklen Punkt am Rande der sich entfernenden Welt darstellten. Die Sonnenstrahlen ergossen sich über das Wasser und zerbrachen in einzelne Splitter, wo die Ruder ins Wasser eintauchten. Ein Licht, das so bewegend war, dass es Narben hinterlassen würde.
Die Themse wand sich aufs Meer zu und trug die Prozession langer Ruderboote, in dem je ein Dutzend schweigender Frauen und ein Gefängnisaufseher saß. Die letzten Boote waren mit Säcken aus Segeltuch, Weidenkörben und verbeulten Koffern beladen, Gepäck von äußerst bescheidenem Umfang. Die Besitztümer einiger Frauen waren so ärmlich, dass sie in eine alte Hutschachtel passten.
Die kleinsten Freiheiten waren ihre größten Sehnsüchte: zum Markt zu spazieren oder auf den Stufen in der Sonne zu sitzen. Monate und Jahre mit wenig Licht und noch weniger Freiheit hatten Hoffnungen in Schatten verwandelt.
Einige Mutige unter ihnen freuten sich auf das, was hinter dem schmalen grauen Horizont lag. Denn was konnte schon schlimmer sein als das, was sie zurückgelassen hatten? Manche, die Kinder hatten, fühlten nur den Verlust ihres Kindes. Dagegen waren Schuldgefühle wegen Verbrechen egal welcher Art nebensächlich.
An der Mündung des Flusses prallten die Strömungen aufeinander und türmten sich zu Wellenkämmen, die gesäumt waren von schmutzigen Kräuseln. Die Themse öffnete sich zum Meer hin. Das Wildwasser war in einem ähnlichen Aufruhr wie ihre Mägen.
Hinter ihnen legte die aufsteigende Sonne ein silbernes Band über die Dächer der Häuser – eine Illusion des Lichts. Es blieb noch Zeit für einen letzten Blick auf dieses funkelnde London, ein Augenblick, um jeden Schatten, jede Silhouette, jede Erinnerung in sich aufzunehmen. London, einst die gesamte Welt, sah jetzt nicht größer aus als eine Abbildung in einem Bilderbuch, so sanft beleuchtet, dass es sich dabei um die Anderswelt handeln könnte.
Das Licht veränderte sich von einem Augenblick zum anderen. Die Rauchwolken der Schlote erhoben sich wie Geister über entfernte Brücken und Türme. Die neuen Fabriken ließen heimlich ihren tiefschwarzen Auswurf in den Fluss sickern.
Vor ihnen lagen eine unergründliche Reise und ein weit entferntes Land jenseits der Meere. Dieser Abschied von England könnte für immer sein. Jetzt gab es nur noch das Meer und den schattenhaften Umriss eines Schiffes im kalten Dunst, das allmählich näher kam. Bald konnten sie den Namen lesen, der auf den hoch aufragenden Bug ihres nächsten Gefängnisses gemalt war.
Rajah
TEIL I
L EINEN
»Es heißt, in Eurem Land sei das Rauchen von Opium unter Androhung schwerer Strafen verboten. Euch muss also bewusst sein, wie schädlich es ist. Solange Ihr es jedoch nicht selbst zu Euch nehmt, es aber weiterhin herstellt und das chinesische Volk dazu verführt, es zu kaufen, ist Euer Verhalten menschenverachtend und nicht im Einklang mit dem himmlischen Pfad.
Euer Land mag zwar 20 000 Meilen entfernt liegen, doch der himmlische Pfad gilt für Euch ebenso wie für uns, und Eure Instinkte sind dieselben wie die unsrigen. Denn nirgendwo auf der Welt sind die Menschen so blind, dass sie nicht unterscheiden können, was Gewinn bringt und was Schaden zufügt.«
A US EINEM B RIEF AN Q UEEN V ICTORIA VOM
K AISERLICHEN H OCHKOMMISSAR L IN Z EXU, 1839
1
F LACHS
Ich erhebe mich heute
Durch die Kraft des Himmels,
Licht der Sonne,
Glanz des Mondes,
Pracht des Feuers,
Schnelligkeit des Blitzes,
Gewalt des Windes,
Tiefe des Meeres,
Beständigkeit der Erde,
Festigkeit des Felsens.
S T. P ATRICK, 5. J AHRHUNDERT N. C HR.
Sie durfte nicht an William O’Donahue denken. Sie hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, nicht an ihn zu denken, und das merkte man auch. Rhia betrachtete prüfend das Ergebnis. Die Sonne stand jetzt so tief, dass sie durch die Leinwand hindurchschien und die Pigmente wie ein buntes Glas zum Leuchten brachte. Das Muster war schief. Sie gab William die Schuld.
In letzter Zeit war alles irgendwie schief. Verschlungen , würde Mamo sagen. Das Leben hat nicht immer einen gleichmäßigen Rhythmus, Rhiannon. Manchmal vibriert es, wie die Saiten einer Harfe … Der Nachhall der Stimme der alten Frau schien noch in der Luft zu hängen. Fast hätte sie mit im Zimmer sein können. Das war kein gutes Zeichen.
Rhia ließ ihren Pinsel in die Ablage an der Staffelei fallen. Den ganzen Nachmittag hatte sie versucht,
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