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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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geschüttelt, wurde mir bewusst, dass ich ihn weder schreien noch fallen hören hatte. Seine Augen waren offen und starrten an mir vorbei. Eine endlose Sekunde lang dachte ich, er sei tot. Dann bewegte sich sein Kopf, und er stöhnte. Ich kniete mich neben ihn. »Hedges!«
    Er stöhnte erneut, und seine Augen flatterten.
    »Können Sie mich hören?«, keuchte ich und schluchzte fast vor Erleichterung, dass er noch lebte. In diesem Moment rollte sein Kopf zuckend zur Seite und gab den Blick auf eine blutig klaffende Wunde seitlich an seinem Hals frei. Sie war nicht groß, sah aber tief aus, als wäre ein Hund an ihm hochgesprungen und hätte an seinem Fleisch gerissen. Die Wunde blutete heftig in seinen Kragen und auf den Boden unter seiner Schulter. »Hilfe!«, schrie ich. Ich bezweifle, dass jemals jemand in den Jahrhunderten, seit er gebaut worden war, die Stille des eichengetäfelten Korridors so heftig gestört hat. Und ich wusste nicht, ob es irgendeinen Zweck haben würde, denn an diesem Tag aßen die meisten der Kollegen mit dem Rektor des Colleges zu Abend. Dann flog eine Tür am anderen Ende des Korridors auf, und der Bedienstete von Professor Jeremy Forester kam angelaufen, ein netter Kerl namens Ronald Egg, der bald darauf seinen Dienst quittierte. Er schien die Lage mit einem Blick zu erfassen, die Augen traten ihm fast aus den Höhlen, und kniete auch schon nieder und band ein Taschentuch um Hedges’ Hals.
    »Kommen Sie«, sagte er zu mir, »wir müssen ihn aufsetzen und die Wunde höher bringen, wenn er keine anderen Verletzungen hat.« Vorsichtig betastete er Hedges’ starren Körper, und als mein Freund nicht protestierte, setzten wir ihn auf und gegen die Wand. Ich stützte ihn mit meiner Schulter, auf der er schwer lastete. Er schloss die Augen.
    »Ich gehe und hole einen Arzt«, sagte Ronald Egg und verschwand den Korridor hinunter. Ich legte den Mittelfinger auf Hedges’ Puls; sein Kopf rollte von einer Seite zur anderen, aber sein Herzschlag schien stabil. Ich konnte nicht anders, ich redete auf ihn ein, um ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen.
    »Was ist passiert, Hedges? Hat Sie jemand geschlagen? Können Sie mich hören? Hedges?«
    Er öffnete die Augen und sah mich an. Sein Kopf hing zu einer Seite, sein Gesicht wirkte halbseitig gelähmt, war bläulich angelaufen, aber er sprach verständlich: »Er sagte, ich soll Ihnen sagen… «
    »Was? Wer?«
    »Ich soll Ihnen sagen, dass er kein Überschreiten dulden wird.«
    Hedges’ Kopf fiel zurück gegen die Wand, dieser große, schöne Kopf, der einen von Englands besten Geistern barg. Die Haut auf meinen Armen begann zu kribbeln. »Wer, Hedges? Wer hat Ihnen das gesagt? Hat er Ihnen weh getan? Haben Sie ihn gesehen?«
    Speichel trat ihm seitlich aus dem Mund, und seine Hände zuckten.
    »Kein Überschreiten dulden«, gurgelte er.
    »Bleiben Sie ruhig«, bedrängte ich ihn. »Sprechen Sie nicht. In ein paar Minuten ist ein Arzt hier. Versuchen Sie, sich zu entspannen und ruhig zu atmen. «
    »Liebe Güte«, murmelte Hedges. »Pope und der Stabreim. Süße Nymphe. Als Grund. «
    Ich sah ihn an, und mein Magen zog sich zusammen. »Hedges?«
    »Der Lockenraub«, sagte Hedges freundlich. »Ohne jeden Zweifel. «
    Der Universitätsarzt, der ihn ins Krankenhaus einwies, erklärte mir, dass Hedges gleichzeitig mit der Wunde einen Schlaganfall erlitten habe. »Durch den Schreck. Diese Wunde am Hals«, fügte er hinzu, als wir wieder draußen vor Hedges’ Zimmer standen, »die sieht aus, als sei sie ihm mit etwas Scharfem zugefügt worden, höchstwahrscheinlich scharfe Zähne, ein Tier. Sie haben keinen Hund?«
    »Natürlich nicht. Hunde sind im College nicht erlaubt.«
    Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sehr merkwürdig. Ich glaube, dass er von einem Tier angegriffen wurde, als er auf dem Weg zu Ihnen war, und dann kam es durch den Schreck zu dem Schlaganfall, der gewissermaßen in Lauerstellung lag. Er ist im Moment völlig durcheinander, auch wenn er zusammenhängende Worte formulieren kann. Ich fürchte, es wird eine Untersuchung geben, wegen der Wunde, und wahrscheinlich werden wir auf irgendeinen bösen Wachhund als Täter stoßen. Versuchen Sie zu überlegen, welchen Weg er zu Ihrem Zimmer genommen hat.«
    Die Untersuchung brachte nichts Befriedigendes zu Tage, aber auch ich wurde nicht angeklagt, da die Polizei weder ein Motiv noch Hinweise darauf fand, dass ich Hedges angegriffen haben könnte. Hedges war zu keiner Aussage fähig, und am Ende

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