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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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ihn wieder zur Seite gelegt. Doch nun, zum ersten Mal nach etlichen Wochen, schlug ich die Seite mit dem außergewöhnlichen Bild auf, dem über dem Banner fauchenden Drachen mit seinen ausgebreiteten Flügeln. Und plötzlich, mit beißender Genauigkeit, sah ich ihn neu und begriff etwas. Mein visuelles Verständnis der Welt war nie besonders scharf ausgebildet gewesen, aber ein Flackern überwacher Sinne hob den Umriss des Drachens hervor, mit den ausgebreiteten Flügeln und dem sich schlängelnden Schwanz. In einem Anfall von Neugier wühlte ich mich durch den Stapel Notizen, die ich aus Istanbul mitgebracht, in die Schublade gelegt und aus meinem Denken gedrängt hatte. Nach einigem Herumnesteln fand ich die Seite, die ich suchte; sie war aus meinem Notizbuch gerissen und zeigte eine Skizze, die ich im Archiv in Istanbul angefertigt hatte, eine Kopie der ersten der drei Karten, die ich dort gefunden hatte.
    Sie werden sich erinnern, dass es drei dieser Karten gegeben hatte, die in immer kleinerem Maßstab und größerem Detail dieselbe unbekannte Region wiedergaben. Diese Region, selbst von meiner unkünstlerischen, wenn auch sorgfältigen Hand gezeichnet, hatte eine äußerst klare Form. Alle Welt konnte darin eine symmetrisch geflügelte Bestie erkennen. Ein langer Fluss wand sich südwestlich davon weg, ganz wie der Schwanz des Drachens. Ich studierte den Holzschnitt, und mein Herz flatterte seltsam. Der Drachenschwanz war voller Stacheln, versehen mit einem Pfeil, der – und jetzt keuchte ich hörbar, und die Wochen der Erholung von meiner einstmaligen Besessenheit waren wie weggefegt – exakt auf den Punkt deutete, welcher auf meiner Karte das »Unheilige Grab« markierte.
    Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Abbildungen war zu eindeutig, um bloßer Zufall sein zu können. Wie hatte ich dort im Archiv nicht bemerken können, dass die auf jenen Karten dargestellte Region genau die Form meines fauchenden, die Flügel spreizenden Drachens hatte, gerade so, als legte er seinen Schatten darüber? Der Holzschnitt, den ich vor meiner Abreise so genau studiert hatte, musste eine klare Bedeutung transportieren, eine Botschaft. Er diente der Bedrohung und Einschüchterung, im Angedenken an eine große Macht. Für den Unbeirrbaren jedoch mochte er einen Hinweis enthalten, der Schwanz deutete so sicher auf das Grab, wie ein Finger auf die eigene Person zeigt: Das bin ich. Und wer war da, an diesem zentralen Punkt, dem »Unheiligen Grab«? Der Drache hielt die Antwort in seinen grausam geschärften Krallen: »Drakulya«.
    Ich schmeckte eine gallige Spannung, mein eigenes Blut, hinten in der Kehle. Ich wusste, ich musste mich vor solchen Schlüssen hüten, meine Ausbildung warnte mich davor, aber ich empfand eine Überzeugung, die weit tiefer reichte als Vernunft. Keine der Karten zeigte den Snagov-See, wo Vlad Tepes begraben sein sollte. Das konnte nur bedeuten, dass Tepes – Dracula – irgendwo anders lag, an einem Ort, den selbst die Legenden nicht verlässlich überliefert hatten. Aber wo? Ich stieß die Frage gegen meinen Willen laut aus. Und warum war der Ort ein Geheimnis geblieben?
    Als ich so dasaß und die verschiedenen Einzelteile zusammenzufügen versuchte, hörte ich vertraute Schritte den College-Korridor heraufkommen – Hedges’ schlurfenden, liebenswerten Gang – und dachte zerstreut, dass ich die Dokumente verstecken, zur Tür gehen, einen Sherry einschenken und mich selbst auf ein heiteres Gespräch einstellen sollte. Ich hatte mich bereits halb erhoben und räumte die Papiere zusammen, als draußen plötzlich Stille eintrat. Es war wie ein Fehler in einem Musikstück, eine Note wird einen Takt zu lange gehalten und zieht dadurch den Zuhörer derart in ihren Bann, wie es kein bestimmter Akkord hätte tun können. Die vertrauten, gutmütigen Schritte waren vor meiner Tür angekommen, aber Hedges klopfte nicht, wie er es normalerweise tat. Mein Herz reagierte wie ein Echo auf den spürbar ausgebliebenen Takt. Über dem Rascheln meiner Papiere und dem Rauschen des Regens in der Rinne über meinem Fenster, das jetzt in völlige Dunkelheit getaucht war, erhob sich ein Summen: Das Blut dröhnte mir in den Ohren. Ich ließ das Buch fallen, eilte zur Tür meines Zimmers, schloss auf und öffnete sie.
    Hedges war da, aber er lag ausgestreckt auf dem polierten Boden, den Kopf nach hinten geworfen und den Körper seitlich verdreht, als hätte ihn eine große Kraft zu Boden geschleudert. Von Übelkeit

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