Der Historiker
Julischen Alpen hinaus. Das kleine Kostanjevica, die »Stadt des Kastanienbaums«, war um diese Jahreszeit tatsächlich voller Kastanien. Etliche waren bereits von den Bäumen gefallen, so dass man, wenn man nicht aufpasste, auf den gepflasterten Straßen leicht unglücklich darauf treten konnte. Vor der Amtswohnung des Bürgermeisters, ursprünglich erbaut, um einen österreichisch-ungarischen Beamten zu beherbergen, lagen die boshaft wirkenden Schalen überall, ein ganzes Rudel winziger Stachelschweine.
Mein Vater und ich spazierten langsam dahin, genossen das Ende eines warmen Herbsttages – im örtlichen Dialekt nannte man diese Tage »Zigeunersommer«, hatte uns eine Frau in einem Geschäft erklärt –, und ich hing Gedanken über die Unterschiede zwischen der ein paar hundert Kilometer entfernten westlichen Welt und diesem Ort etwas südlich von Emona nach. In den Läden hier sah alles gleich aus, und die Verkäufer schienen einander ebenfalls aufs Haar zu gleichen, in königsblaue Kittel gekleidet und mit blumenbedruckten Halstüchern. Ihre Gold- und Stahlzähne blinkten über halb leere Verkaufstheken zu uns herüber. Wir hatten eine riesige Tafel Schokolade gekauft, um unser Picknick aus Salami, Graubrot und Käse abzurunden, und mein Vater hatte noch zwei Flaschen Naranca dabei, einen Orangensprudel, den ich sehr mochte und der mich an Emona, Ragusa und Venedig erinnerte.
Die letzte Besprechung meines Vaters in Zagreb hatte bis zum Abend vorher gedauert, und ich hatte währenddessen meinen Geschichtsaufgaben den letzten Schliff verpasst. Mein Vater wollte, dass ich auch Deutsch lernte, und ich konnte es kaum erwarten, nicht weil, sondern obwohl er darauf bestand. Morgen würde ich anfangen, mit einem Buch, das ich mir in einem Amsterdamer Fremdsprachengeschäft gekauft hatte. Ich trug ein neues kurzes grünes Kleid und gelbe Kniestrümpfe, mein Vater schmunzelte über einen unverständlichen kleinen Schwindel, der sich vormittags zwischen zwei Diplomaten ereignet hatte, und die Naranca-Flaschen schlugen in unserem Einkaufsnetz aneinander. Vor uns lag eine niedrige Steinbrücke, die über den Kostan führte. Ich lief voraus, um einen ersten Blick von der Brücke zu werfen, den ich ganz für mich genießen wollte, nicht einmal mit meinem Vater neben mir.
Schon kurz hinter der Brücke entschwand der Fluss hinter einer kleinen Burg, die sich an das Ufer kauerte, dem Blick. Vor dem eher landhausgroßen slawischen château paddelten Schwäne im Wasser, ein paar standen auch am Ufer und putzten sich. Oben öffnete eine Frau in einem blauen Kittel ein Fenster, stieß die Flügel nach außen, wobei die kleinen Scheiben des Sprossenfensters in der Sonne aufblitzten, und schlug ihren Staubwedel aus. Unterhalb der Brücke wuchsen junge Weiden, und Schwalben segelten immer wieder die Uferböschung unterhalb ihrer Wurzeln entlang. Im Park der Burg entdeckte ich eine Steinbank (nicht zu nahe bei den Schwänen, die ich zu dieser Zeit noch immer fürchtete). Kastanienbäume lehnten sich darüber, und die Burgmauer spendete angenehmen Schatten. Dort könnte sich mein Vater in seinem sauberen Anzug hinsetzen, und vielleicht würde er sogar ein bisschen verweilen und auch gegen seinen Vorsatz erzählen.
Während ich in meiner Wohnung die Briefe studierte, sagte mein Vater und wischte sich mit einem Baumwolltaschentuch Salamireste von den Händen, wollte mir die ganze Zeit über etwas nicht aus dem Kopf, das nicht direkt mit dem tragischen Verschwinden Rossis zu tun hatte. Als ich den Brief über Hedges’ grausames Schicksal gelesen hatte, war mir eine Weile zu übel, als dass ich klar hätte denken können. Ich hatte das Gefühl, in eine kranke Welt gestolpert zu sein, ein Jenseits hinter der mir vertrauten akademischen Wirklichkeit – eine Art Nebenerzählung zum normalen Verlauf der Geschichte, den ich immer für selbstverständlich gehalten hatte. Nach meiner Erfahrung als Historiker blieben die Toten ehrbare Tote, das Mittelalter war voller wirklicher, nicht übernatürlicher Schrecken, Dracula war eine farbige osteuropäische Legende, die in den Filmen meiner Kindheit neu zum Leben erweckt worden war, und 1930 war es nur noch drei Jahre bis zur Machtergreifung Hitlers in Deutschland, ein Terror, der alle anderen Möglichkeiten ausschloss.
Mir war schlecht, ich fühlte mich wie beschädigt und einen Moment lang voller Zorn auf meinen verschwundenen Doktorvater, der mir diese bösen Fantasien vermacht hatte. Aber
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