Der Historiker
mein Vater lachte. »Du hast ein Auge für so etwas«, sagte er. »Venedig ist berühmt für die Show, die es bietet, und stört sich wenig daran, dass es hier und da zu bröckeln beginnt, solange die Welt nur herkommt, um es zu feiern.« Wir saßen vor unserem Lieblingscafé – nach dem Florian –, und er deutete auf die schwitzenden Touristen, ihre Sonnenhüte und pastellfarbenen Hemden, die in der vom Wasser herüberwehenden Brise flatterten. »Warte nur bis zum Abend, und du wirst nicht enttäuscht sein. Eine Bühnenanordnung wie die hier braucht etwas weicheres Licht. Du wirst staunen, wie sich alles verwandelt.«
Ich nippte an meiner Orangeade und fühlte mich viel zu wohl für größere Unternehmungen; auf eine angenehme Überraschung zu warten, kam da meinen Wünschen sehr entgegen. Es waren die letzten heißen Sommertage, bevor sich der Herbst bemerkbar machen würde. Mit dem Herbst kam die Schule und, wenn ich Glück hatte, ein wenig mehr umherstreifendes Lernen mit meinem Vater, der nach wie vor verhandelnd, Kompromisse machend und bittere Abmachungen schließend durch die Welt reiste. In den kommenden Monaten stand wieder einmal Osteuropa auf dem Plan, und ich arbeitete bereits darauf hin, mitgenommen zu werden.
Mein Vater leerte sein Bier und blätterte den Fremdenführer durch. »Ja.« Plötzlich schlug er ihn zu. »Hier ist San Marco. Du weißt, dass Venedig über Jahrhunderte die Rivalin von Byzanz war. Venedig hat einige bemerkenswerte Dinge aus Byzanz fortgeschleppt, zum Beispiel die Karussellpferde dort oben.« Ich sah unter unserer Markise hervor zu San Marco hinüber, wo die vier Bronzepferde über dem Mittelportal das Gewicht der fünf Kuppeln hinter sich herzuziehen schienen. Die Basilika sah in diesem Licht wie geschmolzen aus, grell leuchtend und heiß, ein funkelndes Inferno. »San Marco ist zum Teil ein Abklatsch der Hagia Sophia in Istanbul.«
»Istanbul?«, fragte ich nicht ohne Hintergedanken und löffelte das letzte Eis aus meinem Glas. »Du meinst, sie sieht wirklich wie die Hagia Sophia aus?«
»Na ja, die Hagia Sophia haben die Osmanen erobert, deshalb diese Minarette außen und drinnen die großen hölzernen Rundschilde mit den arabischen Schriftzeichen. Da sieht man Ost und West zusammenstoßen. Aber dann sind da die großen Kuppeln, eindeutig christlich und byzantinisch, wie die von San Marco.«
»Und sie sehen wie die hier aus?« Ich zeigte mit dem Finger über die Piazza.
»Ja, sehr ähnlich, nur grandioser. Die Ausmaße des Baus sind überwältigend. Es nimmt einem den Atem.«
»Oh«, sagte ich. »Könnte ich bitte noch etwas zu trinken bekommen?«
Mein Vater sah mich erschrocken an, aber es war zu spät. Jetzt wusste ich, dass er selbst in Istanbul gewesen war.
12
16. Dezember 1930
Trinity College, Oxford
Mein lieber, unglücklicher Nachfolger,
in diesem Moment hat mich meine Geschichte fast schon eingeholt, oder ich sie, und ich muss von den Ereignissen erzählen, die sie bis in die Gegenwart führen. Dort wird sie, wie ich hoffe, ein Ende finden, denn ich kann den Gedanken kaum ertragen, dass die Zukunft noch mehr von diesen Schrecken gebären wird.
Wie ich erzählte, nahm ich am Ende mein seltsames Buch doch wieder zur Hand, wie ein Süchtiger. Ich redete mir ein, dass sich mein Leben normalisiert hätte, dass meine Erlebnisse in Istanbul zwar merkwürdig gewesen seien, sich aber sicher erklären ließen und nur in meinem reisemüden Hirn solch übertriebene Ausmaße angenommen hätten. Ich nahm das Buch also wieder zur Hand, und ich habe das Gefühl, dass ich Ihnen genau diesen Augenblick schildern sollte.
Es war ein regnerischer Abend im Oktober, vor nun gerade zwei Monaten. Das Semester hatte wieder begonnen, und ich saß nach dem Abendessen in angenehmer Einsamkeit in meinem Arbeitszimmer und pusselte seit einer Stunde an diesem und jenem. Ich erwartete meinen Freund Hedges, einen Dozenten, der gerade mal zehn Jahre älter war als ich und den ich besonders gern mochte. Er war ein etwas tapsiger, ausnehmend gutmütiger Charakter, dessen entschuldigendes Schulterzucken und höfliches, verlegenes Lächeln einen äußerst spritzigen, scharfen Geist verbargen, und ich war mitunter dankbar, dass er ihn auf die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts und nicht auf seine Kollegen ausrichtete. Sah man von seiner Schüchternheit ab, hätte man ihn sich gut bei einem Treffen mit Addison, Swift und Pope in irgendeinem Londoner Kaffeehaus
Weitere Kostenlose Bücher