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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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vorstellen können. Er besaß nur wenige Freunde und hatte wohl niemals wirklich direkt eine Frau angesehen, die nicht mit ihm verwandt war. Seine Träume schienen nicht über die Umgebung von Oxford hinauszureichen, wo er gern spazieren ging, sich hier und da an einen Zaun lehnte und den Kühen beim Wiederkäuen zusah. Seine Sanftheit zeigte sich in der Form seines großen Kopfes, den fleischigen Händen und den weichen braunen Augen, die ihm etwas Kühisches gaben, oder vielleicht eher Dachshaftes, bis sein scharfer Sarkasmus plötzlich in der Luft hing. Ich liebte es, ihn von seiner Arbeit reden zu hören, über die er in einer bescheidenen, aber dennoch enthusiastischen Weise sprach, und noch jedes Mal hatte er mich bei meinen eigenen Projekten vorangetrieben. Sein Name war… Nun, Sie finden ihn in jeder Bibliothek, wenn Sie nur ein wenig herumstöbern, schließlich hat er einige von Englands vergessenen literarischen Geistern auch für den einfachen Leser neu zum Leben erweckt. Aber ich werde ihn Hedges nennen – ein nom de guerre, den ich ihm gegeben habe, um ihm in dieser Geschichte die Diskretion und den Anstand zu gewähren, die auch sein Leben kennzeichneten.
    An diesem besonderen Abend wollte Hedges mit den Rohmanuskripten meiner Aufsätze zu mir kommen, die ich aus meiner Arbeit auf Kreta entwickelt hatte. Er hatte sie auf meinen Wunsch hin für mich gelesen und korrigiert. Er konnte zwar nichts zur Genauigkeit oder Ungenauigkeit meiner Beschreibungen des Handels im antiken Mittelmeerraum sagen, aber er schrieb wie ein Engel, die Sorte Engel, denen ihre Präzision erlaubt haben würde, auf einem Nadelkopf zu tanzen, und oft machte er hilfreiche Vorschläge, wie ich meinen Stil verbessern konnte. Ich sah einer halben Stunde freundlicher Kritik entgegen, dann einem Glas Sherry und dem beglückendem Moment, wenn ein wahrer Freund die Füße vor meinem Kamin ausstreckt und mich fragt, wie es denn sonst so geht. Ich würde ihm zwar nicht die Wahrheit über meine geschundenen und immer noch rekonvaleszenten Nerven verraten, aber wir würden über dieses und jenes sprechen.
    Während ich wartete, stocherte ich im Feuer, gab noch einen Scheit dazu, holte zwei Gläser und warf einen prüfenden Blick auf meinen Tisch. Mein Arbeitszimmer diente mir gleichzeitig als Wohnraum, und ich sorgte dafür, dass es so ordentlich und gemütlich war, wie es die Möbel aus dem neunzehnten Jahrhundert verlangten. Ich hatte nachmittags eine Menge Arbeit erledigt, etwas gegessen, das man mir gegen sechs heraufgebracht hatte, und dann die letzten Papiere weggeräumt. Es wurde bereits früh dunkel, dazu setzte ein düsterer, schräg fallender Regen ein. Das sind für mich die angenehmsten Herbstabende, nicht die trostlosesten, und so verspürte ich nur ein leichtes, ahnungsvolles Erschauern, als meine Hand, die nach einer Lektüre für zehn Minuten suchte, wie zufällig auf den alten Band stieß, den ich so lange gemieden hatte. Ich hatte ihn zwischen weniger aufregende Titel auf das Brett über meinem Schreibtisch gestellt. Nun setzte ich mich also hin, spürte mit lauerndem Vergnügen den wildlederweichen alten Einband in meiner Hand und öffnete das Buch.
    Im selben Augenblick gewahrte ich etwas äußerst Seltsames. Von den Seiten stieg ein Geruch auf, der nichts mit dem zarten Duft von altem Papier und brüchigem Pergament zu tun hatte. Es stank nach Verfall, ein schrecklicher, Übelkeit hervorrufender Geruch nach altem, verdorbenem Fleisch. Er war mir nie zuvor aufgefallen, und ich beugte mich schnüffelnd vor, ungläubig, und schlug das Buch wieder zu. Als ich es einen Augenblick später erneut aufschlug, stiegen die den Magen verdrehenden Gerüche gleich wieder von den Seiten auf. Der kleine Band in meiner Hand schien zu leben und roch doch nach Tod und Verwesung.
    Der irritierende Gestank ließ all die nervösen Ängste wieder in mir aufleben, die mich auf meiner Rückfahrt vom Kontinent gehetzt hatten, und ich vermochte nur mit großer Anstrengung dagegen anzugehen. Alte Bücher faulten, das war eine Tatsache, und ich war mit dem Buch durch Regen und Sturm gereist. Es war ein ausnehmend feuchter Sommer gewesen. Vielleicht sollte ich mit dem Buch in die Abteilung für seltene Bücher gehen und mich beraten lassen, wie man es putzen oder durch Räuchern säubern konnte, oder was auch immer.
    Wäre ich nicht mit Macht gegen meine Reaktion auf diese unangenehme Präsenz angegangen, hätte ich den Band sicher fallen lassen und

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