Der Historiker
Felsen wirkten.
Weiter weg würden wir die entfernten Züge der Wohnblocks und neueren Hotels als das unsere sehen, die auswuchernden Vorstädte, durch die wir tags zuvor mit dem Zug gekommen waren. Was dahinter lag, wusste ich nicht zu sagen, es war zu weit entfernt, um es mir vorzustellen. Mein Vater würde sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischen, und ich würde mir mit einem Seitenblick auf ihn sicher sein, dass er mir, wenn wir den Gipfel erreicht hatten, nicht nur die antiken Ruinen zeigen, sondern auch einen erneuten Blick in die eigene Vergangenheit gewähren würde.
Das Café, das ich ausgesucht hatte, sagte mein Vater, lag weit genug vom Campus entfernt, um mich außer Reichweite des unheimlichen Bibliothekars zu fühlen (der sicher zu arbeiten hatte, wahrscheinlich jedoch irgendwann eine Mittagspause einlegte), aber doch noch zentral genug, um vernünftig zu wirken und nicht wie der entlegene, einsame Ort, an den ein Serienmörder sein Opfer bestellen würde. Ich bin nicht sicher, ob ich angenommen hatte, dass sie verspätet kommen würde, im Zweifel über meine Motive, aber Helen war bereits vor mir da. Als ich die Tür aufstieß, sah ich sie ganz hinten im Lokal ihr seidenes Tuch und die weißen Handschuhe ablegen – du musst dir vorstellen, dass das damals eine Zeit war, in der selbst die hartgesottensten Akademikerinnen immer noch unpraktische, charmante Accessoires trugen. Ihr Haar war beinahe glatt zurückgekämmt und an den Seiten festgesteckt, und als sie sich zu mir umwandte und mich ansah, hatte ich das Gefühl, von ihr noch intensiver gemustert zu werden als abends zuvor am Tisch in der Bibliothek.
»Guten Morgen«, sagte sie mit kühler Stimme. »Ich habe Ihnen einen Kaffee bestellt, nachdem Sie sich am Telefon so übernächtigt anhörten.«
Das klang überheblich – wie konnte sie meiner Stimme anhören, ob ich übernächtigt war oder gut geschlafen hatte, und was, wenn mein Kaffee nun schon längst kalt war? Aber ich stellte mich ihr noch einmal mit Namen vor und schüttelte ihr die Hand, wobei ich meine Befangenheit zu verbergen suchte. Ich hatte sie gleich wegen ihres Nachnamens fragen wollen, besann mich jetzt aber eines Besseren und nahm mir vor, auf die richtige Gelegenheit zu warten. Ihre Hand war weich und trocken und so kühl, als trüge sie noch immer ihre Handschuhe. Ich schob mir ihr gegenüber einen Stuhl zurecht, setzte mich und wünschte, ich hätte mir ein frisches Hemd angezogen, selbst zur Vampirjagd. Ihre männlich wirkende weiße Bluse unter der strengen schwarzen Jacke war makellos.
»Warum dachte ich mir schon, dass ich von Ihnen wieder hören würde?« Ihr Ton hatte fast etwas Beleidigendes.
»Ich weiß, es muss Ihnen merkwürdig vorkommen.« Ich setzte mich gerade hin und versuchte, ihr in die Augen zu sehen. Ich fragte mich, ob ich ihr all die Fragen würde stellen können, die ich ihr stellen wollte, bevor sie aufstand und wieder verschwand. »Es tut mir Leid. Das Ganze ist kein Scherz, und ich will Sie sicher nicht belästigen oder bei Ihrer Arbeit stören.«
Sie nickte und ließ mich reden. Die Form ihres Gesichts hatte genau wie der Ton ihrer Stimme gleichzeitig etwas Hässliches und etwas Elegantes, und diese Entdeckung gab mir Kraft, da sie dadurch menschlicher wurde. »Ich habe heute Morgen etwas Komisches erlebt«, begann ich mit neuem Selbstvertrauen, »und deshalb habe ich Sie so unvermittelt angerufen. Haben Sie immer noch Ihr Exemplar von Dracula? Das aus der Bibliothek?«
Sie war schnell, aber ich war schneller, denn ich hatte auf ihr Zurückzucken gewartet, das Weichen der Farbe aus ihrem sowieso schon blassen Gesicht. »Ja«, sagte sie vorsichtig. »Aber wen geht es etwas an, was sich jemand ausleiht?«
Ich ignorierte ihre Frage. »Haben Sie die Karten aus den Karteikästen gerissen, zu Stoker und dem Buch?«
Dieses Mal war ihre Reaktion echt und unverblümt. »Habe ich was?«
»Heute Morgen habe ich im Katalog nach Informationen zu… zu einem Thema gesucht, mit dem wir beide uns zu beschäftigen scheinen. Dabei habe ich festgestellt, dass alle Karten zu ›Stoker‹ und ›Dracula‹ aus dem Katalog verschwunden sind, aus den Kästen gerissen sind.«
Ihr Gesicht schien sich zusammenzuziehen, sie starrte mich an, und das Hässliche stieg bis nahe unter die Oberfläche, ihre Augen waren zu hell. Dennoch verspürte ich in diesem Moment zum ersten Mal, seit Massimo mir die Nachricht von Rossis Verschwinden zugerufen
Weitere Kostenlose Bücher