Der Historiker
himmelblauer Robe, die Arme voller dicker Bücher. Dort ein Buch auszuleihen, besaß die ganze Heiligkeit des Kommunionempfangs. An diesem Tag schien mir das der pure Zynismus, und ich ignorierte das milde, wenig hilfreiche Gesicht Unserer lieben Frau, als ich die Bibliothekarin ansprach und dabei versuchte, selbst nicht zu zerzaust auszusehen.
»Ich suche nach einem Buch, das nicht an seinem Platz ist«, fing ich an, »und ich frage mich, ob es im Moment womöglich ausgeliehen ist, oder bald zurückkommt…«
Die Bibliothekarin, eine kleine, bitter dreinschauende Sechzigjährige, sah zu mir auf. »Den Titel, bitte.«
»Dracula von Bram Stoker.«
»Einen Augenblick bitte, ich werde nachsehen.« Sie sah einen kleinen Kasten durch, das Gesicht dabei ohne jede Regung. »Tut mir Leid. Das ist nicht da.«
»Oh, wie dumm«, sagte ich herzlich. »Bis wann denn?«
»Noch drei Wochen. Es wurde gestern erst ausgeliehen.«
»Ich fürchte, so lange kann ich einfach nicht warten. Wissen Sie, ich halte ein Seminar ab…« Das waren gewöhnlich die magischen Worte.
»Sie können es gerne reservieren lassen, wenn Sie mögen«, sagte die Bibliothekarin kühl. Damit wandte sie ihre graue Haubenfrisur von mir ab, als wolle sie zurück an ihre Arbeit gehen.
»Vielleicht hat es einer meiner Studenten ausgeliehen, um es vorab schon zu lesen. Wenn Sie mir einfach seinen Namen geben könnten, wende ich mich selbst an ihn.«
Sie sah mich mit schmalen Augen an. »Das tun wir normalerweise nicht«, sagte sie.
»Es ist auch keine normale Situation«, vertraute ich ihr an.
»Lassen Sie mich offen sein. Ich brauche unbedingt einen Abschnitt aus dem Buch, um die Prüfung vorzubereiten, und dummerweise habe ich mein eigenes Exemplar an einen Studenten ausgeliehen, der es nicht mehr finden kann. Es ist mein Fehler, aber Sie wissen, wie es mit den Studenten geht. Ich hätte es besser wissen sollen.«
Ihr Gesicht wurde weicher, und sie sah fast mitleidig drein. »Es ist schrecklich, nicht wahr?«, sagte sie und nickte. »Ich bin sicher, so verlieren wir hier ganze Stapel von Büchern. Also gut, lassen Sie mich nach dem Namen sehen, aber erzählen Sie’s nicht überall herum, in Ordnung?«
Sie drehte sich um, machte sich in einem Schrank an die Suche hinter sich, und ich wartete und staunte nicht schlecht über das, was ich da gerade an mir entdeckt hatte. Wann hatte ich gelernt, so flüssig zu lügen? Meine Freude darüber war etwas zweischneidig. Während ich noch wartete, bemerkte ich einen anderen Bibliothekar hinter der Theke, der mich ansah und jetzt näher herantrat. Er war ein dünner Mann mittleren Alters, den ich oft schon gesehen hatte und der nur wenig größer war als seine Kollegin. Er trug ein schäbiges Tweedjackett und eine fleckige Krawatte. Da er mir vorher schon aufgefallen war, traf mich die Veränderung in seiner Erscheinung völlig unerwartet. Er war bleich, geschwächt, vielleicht sogar ernsthaft krank.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er plötzlich, als erwartete er, dass ich etwas von der Theke stehlen würde, wenn sich niemand um mich kümmerte.
»Oh nein, danke.« Ich deutete auf seine Kollegin. »Mir wird schon geholfen.«
»Verstehe.« Er trat zur Seite, als sie sich mit einem Schein in der Hand umdrehte und ihn mir hinhielt. In diesem Moment wusste ich nicht, wohin ich blicken sollte – der Schein verschwamm mir vor den Augen. Der Mann hatte sich nun ein paar Büchern zugewandt, die offenbar zurückgegeben worden waren und um die sich nun jemand kümmern musste. Und als er kurzsichtig den Kopf senkte, war für einen Moment sein Nacken über dem fadenscheinigen Hemdkragen zu sehen, und ich erkannte zwei verkrustete, übel aussehende Wunden und auf der Haut darunter ein hässliches Spitzenmuster aus angetrocknetem Blut. Dann streckte er sich und drehte sich mit den Büchern auf dem Arm wieder um.
»Das ist es doch?«, fragte die Bibliothekarin. Ich sah hinunter auf den Schein, den sie mir entgegenhielt. »Das ist der Leihschein für Bram Stokers Dracula. Wir haben nur ein Exemplar.«
Ihr schmuddeliger Kollege ließ ein Buch auf den Boden fallen, und der Lärm hallte im hohen Gewölbe wider. Er reckte sich und sah mir direkt ins Gesicht, und ich habe nie – oder hatte zumindest bis zu dem Zeitpunkt nie – einen menschlichen Blick so voller Hass und Argwohn gesehen. »Den wollten Sie doch, oder?«, fragte die Frau wieder.
»Oh nein«, sagte ich. Meine Gedanken rasten, und ich versuchte, mich zu
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