Der Historiker
fassen. »Sie müssen mich missverstanden haben. Ich suche nach Gibbons Aufstieg und Fall des Römischen Reiches. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich halte ein Seminar dazu ab, und wir brauchen noch zusätzliche Exemplare.«
Sie zog heftig die Brauen zusammen. »Aber ich dachte…«
Ich hasste mich dafür, ihre Gefühle zu verletzen, selbst in dieser für mich prekären Situation, immerhin hatte sie sich für mich bemüht. »Das ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Vielleicht habe ich nicht sorgfältig genug gesucht. Ich sehe noch einmal im Katalog nach.«
Kaum dass ich das Wort »Katalog« ausgesprochen hatte, wusste ich jedoch, dass ich meine neue Eloquenz überstrapaziert hatte. Die Augen des Bibliothekars zogen sich noch weiter zusammen, und er drehte den Kopf etwas, wie ein Tier, das den Bewegungen seiner Beute folgte. »Vielen Dank«, murmelte ich höflich und ging davon. Den ganzen langen Weg spürte ich, wie sich der durchdringende Blick des Mannes in meinen Rücken bohrte. Demonstrativ lief ich zum Katalog, verbrachte dort eine Minute, schloss meine Aktentasche und verließ die Bibliothek zielbewusst durch den Haupteingang, durch den die Gläubigen bereits in Trauben zu ihren morgendlichen Studien hereinkamen. Draußen suchte ich mir eine Bank im hellsten Sonnenlicht, von der aus ich alles um mich herum sicher beobachten konnte, und lehnte den Rücken gegen die neugotische Wand hinter mir. Ich brauchte fünf Minuten Ruhe, um zu überlegen – Reflexion, so lehrte Rossi, brauchte ausreichend Zeit, sie war alles andere als Zeitverschwendung.
Das war jedoch alles zu viel, um sich leicht verdauen zu lassen. In jenem wie benebelten Moment hatte ich nicht nur den geschundenen Hals des Bibliothekars gesehen, sondern auch den Namen der jungen Frau in mich aufgenommen, die mir bei Dracula zuvorgekommen war. Sie hieß Helen Rossi.
Der Wind war kalt und wurde stärker. Mein Vater machte eine Pause und zog zwei wasserdichte Jacken aus seiner Kameratasche, eine für jeden von uns. Er trug sie immer eng zusammengerollt bei seiner Fotoausrüstung, dazu einen Leinenhut und ein kleines Erste-Hilfe-Set. Schweigend zogen wir sie über unsere Jacken, und er fuhr fort:
Als ich da so in der Frühlingssonne saß und beobachtete, wie die Universität zum Leben erwachte und ihre gewohnten Aktivitäten aufnahm, verspürte ich plötzlich Neid auf all die normal aussehenden Studenten und Dozenten, die an mir vorübergingen. Sie hielten ihre bevorstehende Prüfung für eine ernste Herausforderung, die Fakultätsentscheidungen für hochdramatisch, dachte ich bitter. Nicht einer von ihnen hatte eine Ahnung von meiner Zwangslage oder hätte mir gar aus ihr heraushelfen können. Ich fühlte mich einsam, aus meiner eigenen Institution, meinem Universum, gedrängt, eine Arbeitsbiene, die man aus dem Stock verbannt hatte. Und überrascht dachte ich, dass das alles nur achtundvierzig Stunden gedauert hatte.
Ich musste jetzt klar denken – und schnell. Zunächst einmal hatte ich beobachtet, wovon auch Rossi selbst berichtet hatte: Jemand, der keine direkte Bedrohung für ihn gewesen war – in meinem Fall war es ein ungewaschener, exzentrisch aussehender Bibliothekar –, war in den Hals gebissen worden. Nehmen wir einmal an, sagte ich mir und musste fast lachen, so grotesk wurden die Dinge, die ich zu glauben begann, nehmen wir einmal an, dass unser Bibliothekar von einem Vampir gebissen wurde, und das vor gar nicht langer Zeit. Rossi war erst vorgestern Abend aus seinem Arbeitszimmer geholt worden – und auch dabei war es blutig zugegangen. Wenn Dracula tatsächlich noch sein Unwesen trieb, hatte er zweifellos nicht für die Besten der akademischen Welt (der arme Hedges war nicht zu vergessen) nur eine Vorliebe, sondern auch für Bibliothekare und Archivare. Nein – ich setzte mich gerade auf: Das war das Muster! Er hatte eine Vorliebe für alle, die mit Archiven zu tun hatten, in denen es Material zu seiner Legende gab. Denken wir an den Bürokraten, der Rossi in Istanbul die Karte entrissen hat. Dann auch der Mann im Smithsonian, sagte ich mir und dachte an Rossis letzten Brief. Und natürlich Rossi selbst, der ein Exemplar »eines jener schönen Bücher« besaß und nach einschlägigen weiteren Dokumenten gesucht hatte. Und jetzt dieser Bibliothekar, obwohl ich keinen Beweis dafür besaß, dass er sich mit Dokumenten beschäftigte, die mit Dracula zu tun hatten. Und zuletzt – auch ich?
Ich nahm meine Aktentasche und lief zu
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