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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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heißt nicht, dass Sie sich nicht am Bahnhof etwas holländische Schokolade kaufen dürften. Bringen Sie mir auch eine Tafel mit. Sie ist zwar nicht ganz so gut wie die belgische, aber immerhin. Auf dann mit euch – und benutzt eure Köpfe.« Als Nächstes schüttelte er mir ernst die Hand und gab mir seine Karte. »Auf Wiedersehen, meine Liebe. Kommen Sie wieder, und besuchen Sie uns, wenn Sie selbst an ein Studium denken.«
    Vor seinem Büro nahm Stephen mir meinen kleinen Koffer ab. »Also los. Wir haben Karten für den Zehndreißiger, aber vielleicht kommen wir auch schon eher weg.«
    Der Rektor und mein Vater hatten an alle Einzelheiten gedacht, wie ich merkte, und ich fragte mich bereits, welche Sondermaßnahmen ich zu Hause zu umgehen haben würde. Im Moment ging es jedoch noch um etwas anderes. »Stephen?«, fing ich an.
    »Oh, nenn mich Barley.« Er lachte. »Alle nennen mich so, und ich habe mich so daran gewöhnt, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft, wenn ich meinen wirklichen Namen höre.«
    »In Ordnung.« Sein Lächeln war immer noch genauso ansteckend – mindestens so ansteckend. »Barley, darf ich… dich um einen Gefallen bitten, bevor wir aufbrechen?« Er nickte. »Ich würde gern noch einmal in die Camera gehen. Sie ist so schön und ich… möchte so gern die Vampirsammlung sehen. Gestern sind wir nicht dazu gekommen.«
    Er stöhnte. »Mir ist schon aufgefallen, dass du gruselige Sachen magst. Scheint bei euch in der Familie zu liegen.«
    »Ich weiß.« Ich spürte, wie ich rot wurde.
    »Also gut. Gehen wir noch einmal schnell hinüber, aber dann müssen wir uns beeilen. Rektor James rammt mir einen Pflock durchs Herz, wenn wir den Zug verpassen.«
    Die Camera war an diesem Morgen ruhig und fast noch leer. Wir liefen die polierte Treppe hinauf und in den finsteren Winkel, wo wir meinen Vater tags zuvor überrascht hatten. Ich schluckte ein paar Tränen hinunter, als wir den kleinen Raum betraten. Es war erst Stunden her, dass mein Vater hier gesessen und dieser seltsam ferne Blick seine Augen verschleiert hatte. Und jetzt wusste ich nicht mehr, wo er war.
    Ich erinnerte mich jedoch, wohin er das Buch wie ganz nebenbei zurückgestellt hatte, während wir uns unterhielten. Es musste links unter der Vitrine mit dem Schädel stehen. Ich fuhr mit dem Finger den Rand des Regalbretts entlang. Barley stand dicht neben mir und sah mir mit offener Neugier zu (es war unmöglich, in diesem kleinen Raum nicht dicht beieinander zu stehen, und ich wünschte, er würde für einen Moment hinaus auf die Galerie gehen). Wo das Buch hätte stehen sollen, war eine Lücke wie die von einem fehlenden Zahn. Ich erstarrte. Ganz sicher würde mein Vater nie ein Buch stehlen, also wer hatte es genommen? Aber schon entdeckte ich den Band nur eine Handbreit weiter. Jemand hatte ihn verstellt, seit wir gestern hier gewesen waren. War mein Vater noch einmal zurückgekehrt, um etwas nachzuschlagen? Oder hatte ihn jemand anders aus dem Regal genommen? Argwöhnisch warf ich dem Schädel in der Vitrine einen Blick zu, aber der antwortete mit einem ausdruckslosen, anatomischen Starren. Ich zog das Buch vorsichtig heraus – es war in knochenfarbenes Material gebunden, und oben sah ein schwarzes Seidenband heraus. Ich legte das Buch auf den Tisch und blätterte zur Titelseite: »Baron de Hejduke, Vampires du Moyen Âge, Bukarest 1886.«
    »Was willst du mit diesem morbiden Unsinn?« Barley sah mir über die Schulter.
    »Eine Schularbeit«, murmelte ich. Das Buch war in verschiedene Kapitel unterteilt, wenn ich es recht gesehen hatte: »Vampire de la Toscane«, »Vampires de la Normandie« und so weiter. Endlich fand ich das richtige: »Vampires de Provence et des Pyrénées«. Gott, würde mein Französisch hierfür reichen? Barley sah bereits auf die Uhr. Ich ließ schnell meinen Finger über die Seite wandern und achtete dabei darauf, weder das elfenbeinfarbene Papier noch die herrliche Schrift zu berühren. »Vampires dans les villages de Provence« – wonach hatte mein Vater gesucht? Er war über diese erste Seite des Kapitels gebeugt gewesen. »Il y a aussi une legende…« Ich beugte mich weiter vor.
    Seit damals habe ich oft erlebt, was mir in dieser Situation zum ersten Mal widerfuhr. Bis dahin waren meine Ausflüge in das geschriebene Französisch rein praktischer Natur gewesen, das Lösen fast schon mathematischer Aufgaben. Das Begreifen eines Satzes war nicht mehr als die Brücke zur nächsten Aufgabe. Nie

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