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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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zuvor hatte ich dieses plötzliche Aufzucken von Verstehen erlebt, das von den Worten in den Verstand und gleich ins Herz wandert; diesen Moment, wenn eine neue Sprache unvermittelt zum Leben erwacht und den fast schon wilden Sprung ins Verstehen unternimmt, die unmittelbare freudige Freisetzung von Bedeutung, wenn die Worte in einem Blitzen aus Hitze und Licht ihre gedruckten Körper hinter sich lassen. Seitdem habe ich diesen Moment der Wahrheit auch mit anderen Gefährten erlebt: dem Deutschen, Russischen, Lateinischen, Griechischen und – für eine kurze Stunde – dem Sanskrit.
    Dieses erste Mal barg die Offenbarung aller nachfolgenden Male. »Il y a aussi une legende…« Ich holte Luft, und Barley beugte sich jetzt ebenfalls vor, um den Worten zu folgen. Was er jedoch übersetzte, hatte ich bereits mit einer Art geistigem Keuchen aufgenommen: »›Einer weiteren Legende nach errang Dracula, der edelste und gefährlichste aller Vampire, seine Macht nicht in der Walachei, sondern durch einen Akt der Ketzerei im Kloster Saint-Matthieu-des-Pyrénées-Orientales, einem Benediktinerkloster, das im Jahre 1000 unseres Herrn gegründet wurde.‹ Wozu das alles?«, sagte Barley.
    »Eine Schulaufgabe«, wiederholte ich, aber unsere Blicke trafen sich auf merkwürdige Weise, und es schien, als sähe er mich zum ersten Mal. »Ist dein Französisch sehr gut?«, fragte ich.
    »Natürlich.« Er lächelte und beugte sich erneut über die Seite. »Da steht, dass Dracula das Kloster alle sechzehn Jahre besucht, um seinen Ursprüngen Reverenz zu erweisen und die Kräfte zu erneuern, die es ihm erlaubt haben, im Tod weiterzuleben.«
    »Lies weiter, bitte.« Ich hielt mich an der Tischkante fest.
    »Sicher«, sagte er. »Den Berechnungen nach, die Bruder Pierre de Provence im frühen siebzehnten Jahrhundert aufgestellt hat, scheint es so zu sein, dass Dracula Saint-Matthieu im Mai bei Halbmond besucht.«
    »Was für einen Mond haben wir jetzt?«, keuchte ich, aber Barley wusste es auch nicht. Im Weiteren wurde Saint-Matthieu nicht mehr genannt. Auf den restlichen Seiten wurde ein Dokument von 1428 aus einer Kirche in Perpignan wiedergegeben, das von Unruhen unter Schafen und Ziegen in der Region berichtete; es war jedoch nicht klar, ob der geistliche Autor Vampire oder Schafdiebe für die Ereignisse verantwortlich machte. »Komischer Kram«, sagte Barley. »Lest ihr zu Hause solche Sachen zum Spaß? Willst du noch was über Vampire in Zypern hören?«
    Nichts sonst in dem Buch schien von Bedeutung für mich, und als Barley wieder auf seine Uhr sah, wandte ich mich traurig von den Wänden voller verlockender Bücher ab.
    »Nun, das war ein Spaß«, sagte Barley auf unserem Weg die Treppe hinunter. »Du bist ein ungewöhnliches Mädchen, stimmt’s?« Ich wusste nicht, wie er das meinte, aber ich hoffte, es war ein Kompliment.
    Im Zug unterhielt Barley mich mit Geschichten von seinen Kommilitonen, einem wahren Festzug von Tollköpfen und Sündenböcken, und trug mir dann mein Gepäck an Bord über das ölig-graue Wasser des Kanals. Es war ein heller, frostiger Tag, und wir machten es uns drinnen auf den Plastiksitzen bequem, wo wir vorm Wind geschützt waren. »Während des Semesters komm ich kaum zum Schlafen«, eröffnete mir Barley und begann auch schon zu dösen. Seinen Mantel hatte er sich wie ein Kissen unter die Schulter geschoben.
    Ich hatte nichts dagegen, dass er eine Weile schlief, da ich genug zu überdenken hatte, Dinge praktischer als auch akademischer Natur. Mein erstes Problem hatte nichts mit der Verknüpfung historischer Ereignisse zu tun, sondern mit Mrs Clay. Sie würde sicherlich bereits in der Diele unseres Hauses in Amsterdam auf mich warten, voll überschäumender Sorge um meinen Vater und mich. Ihre Anwesenheit würde mich zumindest für die Nacht ans Haus fesseln, und wenn ich morgen nach der Schule nicht gleich erschien, würde sie wie ein Wolfsrudel hinter mir her sein, wahrscheinlich mit der Hälfte der Amsterdamer Polizei im Schlepp. Und dann war da noch Barley. Ich betrachtete sein schlafendes Gesicht mir gegenüber. Er schnarchte leise in seine Jacke. Wenn ich morgen zur Schule aufbrach, würde Barley sich auf den Weg zurück zur Fähre machen, und ich würde vorsichtig sein müssen, ihm dabei nicht über den Weg zu laufen.
     
     
    Mrs Clay war tatsächlich zu Hause, als wir ankamen. Barley stand neben mir auf der Treppe, während ich nach dem Schlüssel suchte. Bewundernd verdrehte er den Kopf und

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