Der Historiker
geschrieben hatte. Mein Herz schlug kräftig. Ich legte mir schnell die Kette um den Hals, teilte den Knoblauch und steckte ihn in die Taschen meines Kleids. Es war typisch für meinen Vater, dachte ich, während ich den Blick durch den leeren Raum gleiten ließ, mitten in seiner schweigsamen Eile das Bett so ordentlich zu machen, bevor er das College verließ. Aber warum diese Hast? Eine gewöhnliche diplomatische Mission war es sicher nicht, sonst hätte er mir gesagt oder aufgeschrieben, worum es ging. Oft schon hatte er in Notfällen einspringen müssen. Er brach nicht zum ersten Mal unvermittelt auf, um an einen Krisenherd am anderen Ende Europas zu reisen, aber bisher hatte er immer gesagt, wohin er musste. Dieses Mal, das sagte mir mein rasend schnell klopfendes Herz, ging es nicht um etwas Geschäftliches. Ganz abgesehen davon, dass er hier in Oxford gebraucht wurde, wo er Vorträge halten und an Besprechungen teilnehmen sollte. Und er war niemand, der leichten Herzens einer Verpflichtung nicht nachkam. Nein. Sein Verschwinden musste in Zusammenhang mit der Erschöpfung stehen, unter der er seit einiger Zeit litt – mir wurde bewusst, dass ich etwas wie dieses die ganze Zeit befürchtet hatte. Dann die Szene gestern in der Radcliffe Camera, wo mein Vater in… Worin genau war er vertieft gewesen? Und wohin, wohin nur war er jetzt gefahren? Wohin – ohne mich? Zum ersten Mal in all den Jahren, an die ich mich erinnern konnte, in all den Jahren, während derer mein Vater mich vor der Einsamkeit eines Lebens ohne Mutter beschützt hatte, ohne Geschwister, ohne Heimat, in all den Jahren, in denen er mir Vater und Mutter gewesen war… Zum ersten Mal fühlte ich mich wie eine Waise.
Der Rektor war sehr freundlich, als ich mit meinem gepackten Koffer und dem Regenmantel über dem Arm bei ihm erschien. Ich erklärte ihm, dass ich absolut allein reisen könne. Ich dankte ihm dennoch für sein Angebot, mir einen Studenten als Begleitung mitzugeben – über den Kanal –, und sagte, dass ich ihm seine Freundlichkeit nie vergessen würde. Dabei verspürte ich einen leichten Stich, ein kleines, aber klares Gefühl der Enttäuschung:
Wie schön wäre es doch gewesen, mit Stephen Barley reisen zu dürfen, der mich von seinem Platz mir gegenüber angelächelt hätte! Aber es ging nicht anders. In wenigen Stunden schon, wiederholte ich, würde ich sicher zu Hause sein, und unterdrückte dabei das Bild, das plötzlich vor mir aufschien, das Bild eines roten Marmorbrunnens mit melodisch plätscherndem Wasser, weil ich fürchtete, dieser freundlich lächelnde Mann könnte es in mir erahnen, es mir vom Gesicht ablesen. Ich würde schon bald sicher zu Hause sein, sagte ich, und könne ihn anrufen, damit er beruhigt sei. Und dann, fügte ich noch zerrissener hinzu, werde ja mein Vater in ein paar Tagen wieder zurückkommen.
Rektor James war überzeugt, dass ich fähig sei, allein zu reisen. Ich mache den Eindruck eines unabhängigen Mädchens, sicherlich. Es sei nur so, dass er – und dabei wurde sein Lächeln noch um eine Stufe sanfter –, dass er unmöglich sein Wort nicht halten könne, welches er meinem Vater, einem alten Freund, gegeben habe. Ich sei der größte, unbezahlbare Schatz meines Vaters, und er könne mich einfach nicht ohne besonderen Schutz reisen lassen. Es gehe dabei nicht allein um mich, sondern auch um meinen Vater, das müsse ich verstehen – wir müssten ihn ein wenig pflegen. Und bevor ich noch weiter argumentieren oder auch nur die Information in mich aufnehmen konnte, dass der Rektor und mein Vater alte Freunde waren und sich nicht erst, wovon ich ausgegangen war, vor zwei Tagen kennen gelernt hatten, stand Stephen Barley da. Es war keine Zeit mehr, Widerspruch anzumelden, Stephen stand da und sah aus wie mein alter Freund, hielt Jacke und Tasche in der Hand, und ich vermochte kein wirkliches Bedauern darüber aufzubringen, ihn zu sehen. Ich bedauerte den kleinen Umweg, den es mich kosten würde, aber nicht so sehr, wie ich eigentlich sollte. Es war unmöglich, mich nicht über sein Grinsen zu freuen und sein: »Da ersparst du mir ein bisschen Büffelei.«
Rektor James war nüchterner. »Damit sind Sie an der Reihe, mein Junge«, sagte er zu Stephen. »Rufen Sie mich aus Amsterdam an, sobald Sie da sind, und ich will mit der Haushälterin sprechen. Hier ist Geld für die Fahrkarten und etwas zu essen, und bringen Sie mir die Quittungen.« Seine braunen Augen zwinkerten Stephen zu. »Das
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