Der Historiker
Polizisten am Ort eines tödlichen Unfalls ausschwärmten, in den ich zumindest indirekt involviert war. Ich versuchte, ihnen nicht bei ihrer Arbeit zuzusehen. Mir kam der Gedanke, dass ich besser verschwinden sollte, wenn auch ohne große Hast. Ich konnte es mir nicht erlauben, von der Polizei befragt zu werden, und wenn es nur für ein paar Stunden war. Ich hatte Etliches zu erledigen, und die Sache duldete keinen Aufschub. Ich würde ein Visum für die Türkei benötigen, das ich vielleicht in New York bekam, und ein Flugticket; und irgendwo bei mir zu Hause musste ich an einem sicheren Platz eine Kopie sämtlicher Informationen verstecken, die ich bereits besaß. Gott sei Dank brauchte ich in diesem Semester keine Kurse zu leiten, dennoch würde ich dem Fachbereich irgendein Alibi präsentieren und auch meinen Eltern eine Erklärung liefern müssen, damit sie sich keine Sorgen machten.
Ich wandte mich Helen zu. »Miss Rossi«, sagte ich. »Wenn Sie diese ganze Sache für sich behalten, verspreche ich, mich gleich nach meiner Rückkehr bei Ihnen zu melden. Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir sagen könnten? Fällt Ihnen nicht doch eine Möglichkeit ein, wie ich Ihre Mutter noch vor meiner Abreise sprechen könnte?«
»Ich kann sie selbst nur brieflich erreichen«, sagte sie. »Im Übrigen spricht sie kein Englisch. In zwei Jahren, bei meiner nächsten Heimreise, werde ich sie ausführlich zu allem befragen.«
Ich seufzte. Zwei Jahre, das war zu spät. Unvorstellbar spät. Ich spürte bereits so etwas wie Beklemmung, dass ich mich von meiner merkwürdigen Gefährtin der letzten Stunden – mehr war es nicht – würde trennen müssen, dem einzigen Menschen außer mir selbst, der über die Hintergründe von Rossis Verschwinden Bescheid wusste. Bald schon würde ich allein in einem Land sein, über das ich bislang kaum nachgedacht hatte. Dennoch, es ging nicht anders. Ich streckte die Hand aus. »Miss Rossi, danke, dass Sie es mit diesem harmlosen Verrückten so lange ausgehalten haben. Wenn ich heil zurückkomme, melde ich mich ganz bestimmt… Ich meine… Wenn ich Ihren Vater heil zurückbringe…«
Sie machte eine unbestimmte Geste mit dem Handschuh, als habe sie selbst keinerlei Interesse an Rossis sicherer Heimkehr, aber dann legte sie ihre Hand in meine und schüttelte sie herzlich. Ich hatte das Gefühl, dass ihr fester Griff der letzte Kontakt mit der Welt sein würde, so wie ich sie kannte. »Auf Wiedersehen«, sagte sie. »Ich wünsche Ihnen alles Glück bei Ihren Nachforschungen.« Damit verschwand sie in der Menge.
Die Sanitäter schlossen die Türen des Krankenwagens, und ich machte mich ebenfalls auf und ging in die entgegengesetzte Richtung von Helen. Nach dreißig, vierzig Metern drehte ich mich noch einmal um und hoffte, einen letzten Blick auf ihre schwarz gekleidete Gestalt zwischen den Schaulustigen werfen zu können. Zu meiner Überraschung aber war sie mir gefolgt und hatte mich fast schon erreicht. Als sie vor mir stand, sah ich, dass ihre Wangen von einem rubinroten Schimmer überzogen waren. Ihr Ausdruck war voller Dringlichkeit. »Ich habe es mir überlegt«, sagte sie und hielt dann inne. Sie schien tief Luft zu holen.
»Diese Sache betrifft mein Leben mehr als alles andere.« Ihr Blick war direkt, herausfordernd. »Ich weiß noch nicht ganz, wie ich es anstellen soll, aber ich komme mit.«
24
Mein Vater hatte ein paar hübsche Entschuldigungen dafür, dass er in der Oxforder Vampirsammlung war und nicht bei seiner Besprechung. Die sei abgesagt worden, erklärte er und schüttelte Stephen Barley mit seiner üblichen Herzlichkeit die Hand. Mein Vater sagte, das hier sei einer seiner alten Lieblingsplätze – damit brach er ab, biss sich fast auf die Lippe und nahm noch einen Anlauf. Er habe nach einem ruhigen, friedlichen Ort gesucht (das konnte ich leicht verstehen). Seine Dankbarkeit für Stephens Anwesenheit, Stephens Größe, seine blühende, wollpulloverige Gesundheit, war mit Händen zu greifen. Was hätte mein Vater mir gesagt, wenn ich ihn allein dort oben angetroffen hätte? Wie hätte er den Band vor sich erklären oder gar wie nebenbei schließen können? Das tat er jetzt, aber zu spät. Ich hatte bereits die große Kapitelüberschrift auf dem dicken elfenbeinfarbenen Papier gelesen: »Vampires de Provence et des Pyrénées«.
In dieser Nacht schlief ich nicht sehr gut unter meinem chintzbespannten Baldachin und wachte alle paar Stunden aus
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