Der Hof (German Edition)
schreie lauter, sowohl auf Englisch als auch auf Französisch. Ich schreie so lange, bis meine Stimme heiser wird und mein Hals schmerzt.
«Ist da jemand!», schluchze ich fast und dann, leiser: «Bitte.» Die Worte scheinen von der Nachmittagshitze aufgesaugt zu werden und verlieren sich zwischen den Bäumen. Danach senkt sich die Stille wieder über den Wald.
Da weiß ich, dass ich nirgendwo mehr hingehen werde.
Am nächsten Morgen habe ich Fieber. Ich hatte in der Nacht meinen Schlafsack aus dem Rucksack gezogen und ihn über mir ausgebreitet, aber ich zittere immer noch ziemlich heftig. Mein Fuß puckert dumpf im Rhythmus meines Pulsschlags. Er ist bis weit über den Knöchel hinaus angeschwollen. Obwohl ich den Stiefel so weit wie möglich aufgeschnürt habe, ist das Leder, das inzwischen schwarz und klebrig vom Blut ist, gespannt wie eine Trommelhaut. Es fühlt sich wie ein riesiges Geschwür an, das jederzeit aufplatzt.
Beim ersten Licht des neuen Tages versuche ich wieder zu schreien, aber weil mein Hals so ausgedörrt ist, bringe ich nicht mehr als ein heiseres Krächzen zustande. Schon bald kostet selbst das zu viel Anstrengung. Ich versuche, mir andere Möglichkeiten auszudenken, um Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Weile scheint mir der Gedanke verlockend, den Baum in Brand zu setzen, unter dem ich hocke. Ich taste sogar schon in den Hosentaschen nach dem Feuerzeug, ehe ich wieder zur Vernunft komme.
Die Tatsache, dass ich das ernsthaft in Erwägung gezogen habe, ängstigt mich am meisten. Aber dieser klare Moment ist nicht von langer Dauer. Als die Sonne aufgeht, beginnt es rasch heiß zu werden, und ich schiebe den Schlafsack beiseite. Ich bringe das Kunststück zustande, wie verrückt zu schwitzen und gleichzeitig vor Kälte zu bibbern. Ich schaue meinen Fuß voller Hass an und wünschte, ich könnte ihn wie ein gefangenes Tier einfach abkauen. Und kurz glaube ich, das wirklich zu können, und kann meine Haut und mein Blut und die Knochen förmlich schmecken, als ich in mein Bein beiße. Dann bin ich wieder bei mir, sitze mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt, und das Einzige, was in meinen Fuß beißt, sind die sichelförmigen Eisenbügel.
Ich verliere immer wieder das Bewusstsein, tauche in verworrene, überhitzte Phantasien ab. Irgendwann öffne ich die Augen und sehe ein Gesicht, das mich prüfend mustert. Es gehört einem Mädchen und ist wunderschön und madonnenhaft. Es scheint mit dem auf dem Foto zu verschmelzen und plagt mich mit Schuldgefühlen und Trauer.
«Es tut mir leid», sage ich oder glaube zumindest zu sagen: «Es tut mir leid …»
Ich starre das Gesicht an und hoffe auf ein versöhnliches Zeichen. Aber als ich sie anschaue, beginnt die Form ihres Schädels durch die Haut zu scheinen. Die Oberfläche schält sich ab, und darunter kommt ein Bild aus Fäulnis und Verfall zum Vorschein.
Ein neuer Schmerz überrollt mich, eine neuerliche Qual, die mich fortträgt. Aus weiter Ferne höre ich jemanden schreien. Als die Schreie verebben, höre ich Stimmen, die in einer Sprache reden, die ich zwar erkenne, aber nicht verstehe. Ehe die Worte gänzlich verstummen, kann ich einige jedoch so klar und deutlich hören wie den Schlag einer Kirchturmglocke.
«Doucement. Essayez d’être calme.»
Vorsichtig, verstehe ich. Aber es verwirrt mich, dass sie leise sein müssen.
Dann reißt der Schmerz mich vollends fort, und jenseits davon existiere ich nicht länger.
LONDON
Das Oberlicht ist von Kondenswasser beschlagen. Regen trommelt darauf ein. Wir liegen auf dem Bett, unsere schmutzigen Spiegelbilder über uns – verschwommene Doppelgänger, die im Glas gefangen sind.
Chloe ist ganz weit weg. Ich kenne ihre Stimmungen inzwischen gut genug, um sie nicht zu bedrängen und sie in Ruhe zu lassen, bis sie freiwillig wieder mit mir spricht. Sie starrt durch das Oberlicht nach draußen, und ihre blonden Haare fangen das Licht von der Muschellampe ein, die sie auf dem Flohmarkt gekauft hat. Ihre Augen sind blau. Sie blinzelt nicht. Ich habe wieder das Gefühl, ich könnte meine Hand quer durch ihr Sichtfeld wischen, ohne eine Reaktion zu bekommen. Ich will sie fragen, worüber sie nachdenkt, aber ich schweige. Ich habe Angst, sie könnte es mir erzählen.
Die Luft im Raum ist kalt und feucht auf meiner nackten Brust. Am anderen Ende der Wohnung steht eine leere Leinwand unberührt auf Chloes Staffelei. Sie ist jetzt schon seit Wochen leer. Der Geruch von Terpentin und Ölfarben, den
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