Der Hof (German Edition)
einen Schrein hüten.
Oder ein Grab pflegen.
Mathilde hat nie erzählt, was ihr Vater mit den Gebeinen ihrer angeblich totgeborenen Tochter gemacht hat. Die Polizei wusste nur von dem Mord an Louis. Das kleine Blumenbeet blieb also unberührt. Doch sosehr ich mich auch bemühe, ich kann mir nicht vorstellen, wie Arnaud den Beweis für sein Verbrechen hier verscharrt hat, wo man ihn so leicht finden kann. Besonders, wenn er doch eine viel bessere Methode hatte, sich dessen zu entledigen – wie er ja bei Louis bewiesen hatte. Ich bezweifle, dass es für ihn einen Unterschied machte, sein eigen Fleisch und Blut so zu entsorgen.
Nicht, wenn es nur wieder eine Tochter war.
Das alles ist nur Spekulation, aber es gibt auch noch andere unbeantwortete Fragen. Selbst jetzt kann ich nicht sagen, ob ich in jenem Moment in der Hütte wirklich gehört habe, wie Mathilde das Schlachtermesser vom Betonblock genommen hat. Ich will das nicht glauben, aber dann fällt mir wieder ein, was sie alles getan hat, um ihre Familie zu beschützen. Nachdem ich Louis’ Wagen im See gefunden habe, hatte sie nichts mehr zu verlieren, wenn sie mir den Rest erzählte. Sie hoffte sogar, mir Gretchen anvertrauen zu können. Aber nachdem ich das abgelehnt hatte – hätte sie mir dann noch erlaubt, den Hof zu verlassen, zumal ich doch Bescheid wusste?
In optimistischen Momenten rede ich mir ein, dass sie das getan hätte. Sie hatte mir schon einmal das Leben gerettet, als ich in die Falle geriet. Doch damals war ich eher eine Möglichkeit gewesen und weniger eine Bedrohung. In den dunkleren Momenten denke ich darüber nach, was sie wohl gemacht hätte, wenn sich mein Zustand verschlechtert hätte. Wäre sie wirklich darum bemüht gewesen, mir eine richtige medizinische Versorgung zu ermöglichen, wie sie behauptet hatte? Mit allen damit verbundenen Risiken? Oder wäre ich wie Louis geendet? Eine Mahlzeit für die Sanglochons ihres Vaters?
Ich weiß es nicht. Vielleicht haben mich die Geheimnisse des Hofs inzwischen so verdorben, dass ich auch da welche sehe, wo keine existieren. Und meine eigenen Taten geben mir nicht das moralische Recht, darüber zu urteilen. In der Nacht in der Hütte, als ich glaubte, Mathilde habe das Messer vom Block genommen, galt mein erster Gedanke dem Hammer, mit dem Georges die Sau betäubt hatte. Wenn Michel uns nicht in jenem Moment Gretchens Anwesenheit verraten hätte, hätte ich ihn dann zur Hand genommen?
Ihn benutzt?
Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich das verneint, aber das war vor Jules. Obwohl ich ihn nicht umbringen wollte, frage ich mich, ob das einen Unterschied macht. Wenn ich gewusst hätte, was passierte, wenn ich Gas gab, wenn ich mir die einfache Frage gestellt hätte, ob er oder ich überleben sollte, hätte ich dann irgendwie anders gehandelt? Nicht leicht zu beantworten. Unter der Oberfläche sind wir alle Tiere. Das will die Gesellschaft, die Arnaud so verabscheut, gerne verbergen. Die Wahrheit ist aber, dass keiner von uns weiß, wozu er im Grunde in der Lage ist.
Wenn wir Glück haben, finden wir es nie heraus.
Einer Eingebung folgend, hocke ich mich hin und beginne, das Unkraut im Blumenbeet zu rupfen. Ich weiß nicht, warum ich das mache, aber es fühlt sich richtig an. Als die frühere Ordnung halbwegs hergestellt ist, stehe ich auf und blicke mich ein letztes Mal um. Dann wische ich mir die Erde von den Händen und gehe zurück in den Hof. Ich pfeife.
«Lulu! Komm her, Süße!»
Der Spaniel kommt hinter dem Stallgebäude hervorgeschossen, wo sie herumgeschnüffelt hat. Das fehlende Hinterbein behindert sie kaum, und ihre Begeisterung bringt mich zum Lächeln. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, sie zu mir zu nehmen, aber sonst wollte niemand sie, und der Tierarzt konnte sie nicht ewig behalten. Ich musste es einfach tun, denn sonst wäre sie vermutlich eingeschläfert worden. Außerdem ist es schon überraschend, wie viel leichter es ist, per Anhalter zu reisen, wenn man als Reisegefährten einen dreibeinigen Hund bei sich hat.
Als wir an dem Haus vorbei zurückgehen, bleibt sie vor der Küchentür stehen und winselt. Aber sie hält sich nicht lange auf und folgt mir schon bald aus dem Innenhof auf den Weg.
Lulu schlüpft unter dem Tor hindurch, während ich drüberklettere. Sobald wir auf der anderen Seite sind, schaue ich die Straße rauf und runter. Keine Autos in Sicht. Der Spaniel beobachtet mich mit aufgestellten Ohren und wackelt aufmerksam mit dem Schwanz, während
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