Der Idiot
schwieg der Fürst, um
ihn sich aussprechen zu lassen. Aber doch blieb es sehr unklar, ob die
Briefe eigentlich durch seine oder durch Wjeras Hände gegangen waren.
Wenn er selbst versicherte, an Rogoschin und an Nastasja Filippowna,
das sei ganz dasselbe, so war es danach wahrscheinlicher, daß die
Briefe nicht durch seine Hände gegangen waren, vorausgesetzt, daß sie
überhaupt existiert hatten. Auf welche Weise ihm jetzt ein Brief in die
Hände gekommen war, das blieb völlig unaufgeklärt; am
wahrscheinlichsten war die Annahme, daß er ihn Wjera irgendwie
weggenommen ... ihn ihr heimlich entwendet und in irgendeiner Absicht
zu Lisaweta Prokofjewna getragen habe. Das war die Auffassung, zu der
der Fürst schließlich gelangte.
»Sie sind verrückt geworden!« rief er ganz fassungslos.
»Nicht so ganz, hochgeehrter Fürst«, erwiderte Lebedjew nicht ohne
Bosheit. »Allerdings wollte ich den Brief eigentlich Ihnen einhändigen,
Ihnen zu eigenen Händen, um Ihnen einen Dienst zu erweisen ... aber ich
entschied mich dann doch dafür, mich lieber dort verdient zu machen und
der edelsten Mutter über alles Klarheit zu verschaffen ... wie ich ja
auch schon früher einmal ihr durch einen anonymen Brief eine Mitteilung
hatte zugehen lassen; und als ich vorhin um acht Uhr zwanzig Minuten
den Zettel schrieb, in dem ich bat, mich zu empfangen, unterzeichnete
ich mich zur Vorbereitung: ›Ihr geheimer Korrespondent‹; ich wurde
sofort bei der hochedlen Mutter vorgelassen, unverzüglich, sogar mit
ganz besonderer Eile, durch den hinteren Eingang ...«
»Nun, und?«
»Aber da hat sie mich beinahe geprügelt; es war nahe daran, ganz
nahe daran, so daß sie mich so gut wie geprügelt hat. Und den Brief
schleuderte sie mir hin. Allerdings wollte sie ihn zuerst behalten; das
sah ich, das bemerkte ich; aber sie änderte ihre Absicht und
schleuderte ihn mir hin: ›Wenn er dir, einem solchen Menschen, zur
Bestellung anvertraut ist, dann bestelle ihn auch!‹ sagte sie. Sie
fühlte sich ordentlich beleidigt. Wenn sie sich nicht geschämt hat, in
meiner Gegenwart so zu reden, so muß sie sich wohl beleidigt gefühlt
haben. Was hat sie für einen jähzornigen Charakter!«
»Wo ist der Brief jetzt?«
»Ich habe ihn immer noch; da ist er.«
Er übergab dem Fürsten Aglajas Billett an Gawrila Ardalionowitsch,
das dieser an demselben Vormittag zwei Stunden später triumphierend
seiner Schwester zeigte.
»Dieser Brief darf nicht in Ihren Händen bleiben.«
»Ich gebe ihn Ihnen, Ihnen! Ihnen bringe ich ihn!« rief Lebedjew
eifrig. »Jetzt bin ich wieder nach einer vorübergehenden Untreue mit
Kopf und Herz Ihr Diener! Bestrafen Sie das Herz, aber schonen Sie den
Bart! wie Thomas Morus sagte ... in England und in Großbritannien. Mea
culpa, mea culpa, wie die römische Päpstin sagt ... das heißt, er ist
der römische Papst; aber ich nenne ihn die römische Päpstin.«
»Dieser Brief muß sogleich dem Adressaten eingehändigt werden«, sagte der Fürst geschäftig. »Ich werde ihn ihm zustellen.«
»Aber wäre es nicht besser, wäre es nicht besser, besterzogener Fürst, wäre es nicht besser ... so!«
Lebedjew schnitt eine sonderbare, rührende Grimasse, bewegte sich
unruhig auf seinem Platz hin und her, als ob man ihn mit einer Nadel
stäche, zwinkerte schlau mit den Augen und suchte durch Gebärden, die
er mit den Händen machte, etwas zu verdeutlichen.
»Was soll das heißen?« fragte der Fürst in strengem Ton. »Man sollte
ihn doch zunächst öffnen!« flüsterte er gerührt und gleichsam
vertraulich.
Der Fürst sprang in solchem Zorn auf, daß Lebedjew schon
davonzulaufen begann; aber als er bis zur Tür gekommen war, blieb er
stehen, um abzuwarten, ob der Fürst nicht wieder gnädig werden würde.
»Ach, Lebedjew, wie kann nur jemand auf eine so unwürdige Handlung verfallen, wie Sie sie vorschlagen!« rief der Fürst traurig.
Lebedjews Miene hellte sich auf.
»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!« sagte er und
näherte sich dem Fürsten sofort wieder, indem er Tränen vergoß und sich
gegen die Brust schlug.
»Das ist ja eine Schändlichkeit!«
»Gewiß, eine Schändlichkeit. Das ist der richtige Ausdruck.«
»Und was haben Sie für eine häßliche Angewohnheit, in dieser ...
seltsamen Weise zu verfahren? Sie sind ja der reine Spion! Warum haben
Sie anonym geschrieben und eine so edeldenkende, gute Frau in Aufregung
versetzt? Und endlich, warum soll Aglaja Iwanowna nicht das Recht
haben, zu
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