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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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aber
nicht nach oben gehen und fürchtete sich sogar, den Kranken zu sehen;
er rang die Hände und äußerte, als er mit dem Fürsten sprach, in
unzusammenhängender Rede: »So ein Unglück! Und nun gerade zu solcher
Zeit!« Der Fürst glaubte zu verstehen, von was für einer Zeit er rede.
Ippolit traf der Fürst nicht mehr in Ptizyns Haus an. Gegen Abend kam
Lebedjew herbeigelaufen, der nach der morgendlichen Aussprache bis
dahin ununterbrochen geschlafen hatte. Jetzt war er beinah nüchtern und
vergoß um den Kranken aufrichtige Tränen wie um einen leiblichen
Bruder. Er klagte sich laut an, ohne jedoch zu erklären, worin sein
Verschulden bestehe, und setzte der armen Nina Alexandrowna mit der
alle Augenblicke wiederholten Versicherung zu, er, er selbst, niemand
als er sei daran schuld ... einzig und allein aus vergnüglicher Neugier
habe er es getan, und der Entschlafene (so nannte er wunderlicherweise den
noch lebenden General) sei sogar ein höchst genialer Mensch gewesen. Er
betonte mit besonderem Ernst immer wieder dessen Genialität, als ob das
in diesem Augenblick irgendwelchen außerordentlichen Nutzen hätte
schaffen können. Nina Alexandrowna, die seine aufrichtigen Tränen sah,
sagte schließlich zu ihm ohne jeden Vorwurf und beinah mit einer Art
von Zärtlichkeit: »Wir wollen es gut sein lassen; weinen Sie nicht
mehr; Gott wird es Ihnen verzeihen!« Lebedjew war durch diese Worte und
den Ton, in dem sie gesprochen wurden, so gerührt, daß er diesen ganzen
Abend nicht mehr von Nina Alexandrownas Seite weichen wollte (auch
nicht an den folgenden Tagen, bis zum Tod des Generals, verbrachte er
fast die ganze Zeit vom Morgen bis in die Nacht hinein in diesem Haus).
Im Laufe des Tages kam zweimal zu Nina Alexandrowna ein Bote von
Lisaweta Prokofjewna, um über das Befinden des Kranken Erkundigungen
einzuziehen. Als am Abend um neun Uhr der Fürst im Salon bei
Jepantschins erschien, der sich bereits mit Gästen gefüllt hatte,
begann Lisaweta Prokofjewna ihn sofort teilnahmsvoll und eingehend nach
dem Kranken zu befragen und beantwortete mit ruhigem Ernst die Fragen
der alten Bjelokonskaja, was das für ein Kranker und für eine Nina
Alexandrowna sei. Dem Fürsten gefiel das sehr. Er selbst redete bei
seinem Gespräch mit Lisaweta Prokofjewna »sehr schön«, wie sich nachher
Aglajas Schwestern ausdrückten, »bescheiden, leise, ohne überflüssige
Worte, ohne Gestikulationen, in würdiger Art; er war mit gewandter
Manier in den Salon eingetreten; sein Anzug war tadellos«; er fiel
nicht nur nicht auf dem glatten Fußboden hin, wie er tags zuvor
befürchtet hatte, sondern machte sogar offenbar auf alle einen recht
angenehmen Eindruck.
    Seinerseits bemerkte er, nachdem er sich hingesetzt und um sich
geblickt hatte, sofort, daß diese ganze Gesellschaft durchaus nicht den
Schreckgespenstern glich, mit denen ihm Aglaja gestern hatte Angst
machen wollen, oder den Traumgestalten, die er in der Nacht im Schlaf
gesehen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben sah er ein Stückchen von
dem, was man mit dem furchtbaren Namen »die vornehme Welt« bezeichnet.
Er hatte infolge gewisser besonderer Absichten, Pläne und Neigungen
sich schon längst danach gesehnt, in diesen Zauberkreis einzudringen,
und war daher sehr gespannt auf den ersten Eindruck, den dies alles auf
ihn machen werde. Dieser erste Eindruck war geradezu entzückend. Es kam
ihm so vor, als seien alle diese Menschen geradezu dazu geboren,
miteinander zusammen zu sein; als sei bei Jepantschins an diesem Abend
keine »Gesellschaft« und keine geladenen Gäste, sondern Leute aus dem
engsten Bekanntenkreis, und als sei er selbst schon lange ihr ergebener
Freund und Gesinnungsgenosse und jetzt nach kurzer Abwesenheit zu ihnen
zurückgekehrt. Die eleganten Manieren, die Schlichtheit und
anscheinende Herzlichkeit übten auf ihn eine faszinierende Wirkung aus.
Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß alle diese Treuherzigkeit und
Vornehmheit, diese geistreiche Redeweise und dieses würdevolle Wesen
vielleicht nur ein prächtiges Kunstprodukt seien. Die Mehrzahl der
Gäste bestand sogar trotz ihres blendenden Äußern aus ziemlich hohlen
Menschen, die übrigens in ihrer Selbstzufriedenheit selbst nicht einmal
wußten, daß manches, was sie gutes an sich hatten, nur ein Kunstprodukt
war, das ihnen zudem gar nicht als Verdienst angerechnet werden konnte,
da es ihnen unbewußt und durch Erbschaft zugefallen war. Dem Fürsten,
der ganz im Banne des entzückenden ersten

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