Der Idiot
wagte kaum zu
atmen und fing jedes Wort auf und legte es gleichsam auf die Waage, wie
wenn er es für einen Brillanten hielte.
»Er war zornig, gewiß, ja, und vielleicht nicht ohne Grund«,
antwortete Rogoschin, »aber wer sich am schlimmsten gegen mich benahm,
das war mein Bruder. Von meiner Mutter will ich nichts sagen; sie ist
eine alte Frau, liest die Lebensbeschreibungen der Heiligen, sitzt mit
alten Weibern zusammen, und was Bruder Senka 2 anordnet,
das muß geschehen. Aber er, warum hat er mich seinerzeit nicht
benachrichtigt? Na, begreifen läßt es sich schon! Es ist wahr, ich war
damals ohne Besinnung. Und es war auch ein Telegramm abgeschickt, sagen
sie. Und es ist auch ein Telegramm bei der Tante angekommen. Aber sie
ist seit dreißig Jahren Witwe und sitzt immer vom Morgen bis zum Abend
mit Jurodiwys 3 zusammen.
Sie ist beinah eine Nonne, oder eigentlich noch schlimmer als eine
Nonne. Vor Telegrammen hat sie von jeher Angst gehabt, und so hat sie
auch dieses uneröffnet auf der Polizei abgeliefert, und da wird es wohl
noch liegen. Erst Konew, Wasili Wasiljewitsch Konew, hat sich meiner
angenommen und mir alles geschrieben. Von der Brokatdecke auf dem Sarg
des Vaters hat der Bruder bei Nacht die massiv goldenen Quasten
abgeschnitten und gesagt: ›Die sind einen tüchtigen Batzen Geld wert.‹
Schon allein dafür kann er nach Sibirien kommen, wenn ich will; denn
das ist Heiligtumsschändung. He, Sie Vogelscheuche!« wandte er sich an
den Beamten. »Wie steht's im Gesetz: ist das Heiligtumsschändung?«
»Jawohl, Heiligtumsschändung, Heiligtumsschändung!« stimmte ihm der Beamte sogleich bei.
»Und kommt einer dafür nach Sibirien?«
»Gewiß, nach Sibirien, nach Sibirien! Ohne weiteres nach Sibirien!«
»Bei mir zu Hause denken sie bestimmt, daß ich noch krank sei«, fuhr
Rogoschin, zu dem Fürsten gewendet, fort. »Aber ich habe mich, ohne ein
Wort zu sagen, obwohl ich noch nicht hergestellt bin, still auf die
Bahn gesetzt und fahre jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bruder
Semjon Semjonowitsch! Er hatte mich bei meinem verstorbenen Vater
verpetzt, das weiß ich. Aber daß ich wirklich durch die Geschichte mit
Nastasja Filippowna damals den Vater aufgebracht habe, das ist wahr. Da
habe ich allein schuld. Das habe ich in einem Augenblick der
Unbedachtsamkeit begangen.«
»Durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna?« sagte der Beamte in kriecherischem Ton, wie wenn er etwas überlegte.
»Die Dame kennen Sie nicht!« schrie ihn Rogoschin ungeduldig an.
»Und ich kenne sie doch!« erwiderte der Beamte triumphierend.
»Ach was! Es gibt viele Damen, die Nastasja Filippowna heißen! Und
ich muß sagen: was sind Sie für ein unverschämtes Subjekt! Na, das habe
ich doch gleich gewußt, daß sich irgend so ein Subjekt an mich hängen
wird!« fuhr er, zum Fürsten gewendet, fort.
»Aber vielleicht kenne ich sie doch!« versetzte der Beamte
beharrlich. »Da müßte ich nicht Lebedjew sein, wenn ich sie nicht
kennen sollte! Euer Durchlaucht belieben mir einen Vorwurf zu machen;
aber wie, wenn ich Ihnen den Beweis liefere! Also es ist dieselbe
Nastasja Filippowna, um derentwillen Ihr Vater Sie mit einem Haselstock
ermahnen wollte; es ist Nastasja Filippowna Baraschkowa, sozusagen
sogar eine vornehme Dame und in ihrer Art eine Fürstin, und sie hat ein
Verhältnis mit einem gewissen Tozki, mit Afanasi Iwanowitsch Tozki,
ausschließlich mit diesem einen, einem Gutsbesitzer und
Großkapitalisten, Mitglied verschiedener Handelsgesellschaften, der
infolge dieser seiner kommerziellen Tätigkeit mit dem General
Jepantschin in sehr freundschaftlicher Beziehung steht ...«
»Na, nun sieh mal an!« rief Rogoschin, wirklich erstaunt, aus. »Pfui Teufel, er weiß wahrhaftig genau Bescheid!«
»Er weiß alles! Lebedjew weiß alles! Auch Alexander Lichatschows
Begleiter bin ich zwei Monate lang gewesen, Euer Durchlaucht, und zwar
ebenfalls nach dem Tod seines Vaters, und ich kenne alle, geradezu alle
seine Heimlichkeiten, und es kam so weit, daß er ohne mich keinen
Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuldgefängnis; aber damals hatte ich
Gelegenheit, auch Fräulein Armance und Fräulein Corallie und die
Fürstin Pazkaja und Nastasja Filippowna kennenzulernen, und auch
vieles, vieles zu erfahren hatte ich Gelegenheit.«
»Nastasja Filippowna? Hat sie etwa mit Lichatschow ...«, rief
Rogoschin und blickte den Redenden böse an; sogar seine Lippen waren
blaß geworden und zitterten.
»N-nein! N-nein! Entschieden
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