Der Idiot
öffnete er die Glastür, die hinter ihm geräuschvoll wieder zuschlug, und begann die Haupttreppe zum zweiten Stock hinaufzusteigen. Die Treppe war dunkel, kunstlos aus Steinstufen gebaut, die Wände mit roter Farbe angestrichen. Er wußte, daß Rogoschin mit seiner Mutter und seinem Bruder das ganze zweite Stockwerk dieses düsteren Hauses bewohnte. Der Diener, der dem Fürsten öffnete, führte ihn ohne Anmeldung hinein; die Führung dauerte lange: sie passierten einen für Festlichkeiten bestimmten Saal mit marmorartig bemalten Wänden, eichenem Parkettfußboden und schweren, plumpen Möbeln aus den zwanziger Jahren; sie gingen auch durch einige kleine Zimmerchen, wobei sie Bogen und Zickzacke machten, ein paar Stufen hinauf- und dann wieder ebensoviele hinunterstiegen, und klopften endlich an einer Tür an. Parfen Semjonowitsch öffnete selbst; als er den Fürsten erblickte, wurde er so blaß und blieb so starr auf dem Fleck stehen, daß er mit seinem unbeweglichen, erschrockenen Blick und dem zu einem verständnislosen Lächeln schiefgezogenen Mund eine Zeitlang einem steinernen Götzenbild glich; er schien in dem Besuch des Fürsten etwas Unglaubliches, ja beinah Wunderbares zu finden. Der Fürst hatte zwar etwas Derartiges erwartet, war aber doch erstaunt.
»Vielleicht komme ich nicht gelegen, Parfen; ich kann ja wieder gehen«, sagte er schließlich verlegen.
»Nicht doch, du kommst durchaus gelegen!« erwiderte Parfen, der endlich seine Fassung wiedergewann. »Bitte, tritt näher!«
Sie duzten sich. Es hatte sich in Moskau so getroffen, daß sie häufig und lange zusammen waren, und es hatte bei diesem Zusammensein auch Augenblicke gegeben, die auf das Herz des einen wie des andern einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Jetzt hatten sie einander mehr als drei Monate lang nicht gesehen.
Die Blässe und ein leises, huschendes Zucken waren noch immer nicht von Rogoschins Gesicht gewichen. Er hatte zwar seinen Gast eingeladen näherzutreten; aber seine außerordentliche Befangenheit dauerte fort. Während er den Fürsten zu einem Lehnsessel führte und am Tisch Platz nehmen ließ, wandte sich dieser zufällig zu ihm hin und blieb überrascht von seinem seltsam starren Blick stehen. Dieser Blick schien den Fürsten zu durchbohren und erinnerte ihn zugleich an etwas Peinliches, Düsteres, das er vor wenigen Stunden gesehen hatte. Er setzte sich nicht hin, sondern blieb, ohne sich zu rühren, stehen und blickte Rogoschin eine Weile gerade in die Augen: diese Augen schienen im ersten Moment noch stärker aufzuflammen. Endlich lächelte Rogoschin, aber etwas verlegen und verwirrt.
»Warum siehst du mich denn so unverwandt an?« murmelte er. »Setz dich doch!«
Der Fürst setzte sich.
»Parfen«, sagte er, »sag mir aufrichtig: wußtest du, daß ich heute nach Petersburg kommen würde?«
»Daß du herkommen würdest, habe ich mir gedacht«, versetzte Rogoschin. »Und wie du siehst, habe ich mich nicht geirrt«, fügte er boshaft lächelnd hinzu. »Aber woher hätte ich wissen sollen, daß du gerade heute kommen würdest?«
Die schroffe Heftigkeit und der seltsam gereizte Ton der an die Antwort angeschlossenen Frage befremdeten den Fürsten noch mehr.
»Aber selbst wenn du wußtest, daß ich gerade heute kommen würde, so brauchst du doch nicht so gereizt zu sein«, sagte der Fürst leise, nicht ohne Verlegenheit.
»Warum fragtest du denn, ob ich es gewußt habe?«
»Als ich vorhin aus dem Waggon stieg, sah ich zwei ganz ebensolche Augen auf mich gerichtet wie die, mit denen du mich soeben von hinten ansahst.«
»Na so was! Wessen Augen waren denn das?« murmelte Rogoschin argwöhnisch.
Es schien dem Fürsten, als sei er zusammengezuckt.
»Ich weiß es nicht; es war einer aus der dichten Menge; ich halte sogar für möglich, daß es mir nur so vorgekommen ist; dergleichen Täuschungen begegnen mir in letzter Zeit häufiger. Ich habe beinah dieselbe Empfindung, Bruder Parfen, wie vor fünf Jahren, als ich meine Anfälle bekam.«
»Na also, vielleicht ist es dir nur so vorgekommen; ich weiß es nicht ...«, murmelte Parfen.
Das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht stand ihm in diesem Augenblick sehr schlecht; dieses Lächeln hatte sozusagen einen Sprung bekommen, und Parfen war trotz aller Bemühungen nicht imstande, es wieder zusammenzukleben.
»Nun, willst du wieder ins Ausland gehen, ja?« fragte er und fügte plötzlich hinzu: »Erinnerst du dich noch, wie wir im Herbst auf der Bahn zusammen von
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