0906 - Das Vermächtnis der Hexe
17.02.1809
Ein Lächeln lag auf Henriettes Lippen, als sie das kleine Puppenhaus aus dem Schaufenster nahm und stattdessen mit knotigen Fingern einen hölzernen Esel auf das mit rotem, fadenscheinigem Leinen bezogene Podest stellte.
Sie mochte Kinder! Sie liebte es, ihnen Geschenke zu machen und dann zu beobachten, wie ihre Augen vor Freude glänzten. Gab es etwas Faszinierendes, als Kindern zuzusehen, die stundenlang in der Welt ihres Spiels versunken waren? Nein, das gab es nicht!
Deshalb führte Henriette mit ihrem Bruder Matthias einen Spielwarenladen.
Gewiss, der Laden war nichts Besonderes. Er war klein, unordentlich, staubig. Die Scheibe des Schaufensters war schmutzig, an einigen Stellen sogar blind, und das Glöckchen über der Eingangstür klang eher jämmerlich als fröhlich.
Dennoch kamen die Kinder der Stadt immer wieder gerne hierher. Gerade presste schon wieder ein Mädchen seine Nase gegen das beschlagene Glas. Große, unschuldige Augen starrten unter einer Wollmütze hervor auf den Esel, den Matthias' Schnitzmesser erst gestern Abend aus einem unförmigen Stück Lindenholz geschält hatte.
Henriette winkte dem Mädchen zu. Scheu lächelte es zurück. Seine Nase war knallrot und sein Atem kondensierte in der Februarkälte. Henriette überlegte gerade, ob sie das Mädchen hereinbitten sollte, da wurde es von einer ausgezehrten Frau mit stechendem Blick weggezerrt.
Wahrscheinlich die Mutter der Kleinen.
Mit sehnsüchtiger Miene sah das Mädchen noch einmal über die Schulter, doch da riss die Mutter sie auch schon weiter.
Henriette zuckte mit den Achseln. Dann eben nicht. Es würden noch andere Kinder kommen, denen sie ihre Spielsachen zeigen konnte. All die Schaukelpferde, Strohpuppen, Holzsoldaten, Trommeln und Kreisel. Sie hatte sogar ein paar Porzellanpüppchen.
Während sie den Kleinen all ihre Schätze zeigte, würde sie mit ihnen Bonbons und Zuckerstangen lutschen, denn Henriette führte auch immer ein breites Angebot an Naschwerk im Sortiment. Schließlich wollte sie, dass die Kinder sich wohlfühlten in ihrem Laden. All die Kuchen und Plätzchen waren es vermutlich auch, die die Kleinen hierher lockten.
Oh ja, Henriette mochte Kinder über alles.
»Ich gehe zum Markt«, hörte sie die Stimme ihres Bruders Matthias hinter sich. »Brauchst du etwas?«
Sie sah noch einen Augenblick dem Mädchen hinterher, das seiner Mutter durch den Schnee nachstapfte, dann drehte sie sich um.
»Sei doch so gut und bring mir ein schönes Stück Fleisch mit.« Sie seufzte. »Der Junge hat in den letzten Tagen zwar schon etwas zugenommen, aber er ist immer noch so schrecklich dünn. Ich glaube, eine kräftige Brühe wäre jetzt genau das Richtige für ihn.«
»Natürlich, Schwesterherz«, sagte Matthias. Das Glöckchen über der Tür ächzte ein blechernes Glink , als er den Laden verließ.
Ein weiteres Seufzen entrang sich Henriettes Kehle. Sie runzelte die Stirn.
Was sollte sie nur mit dem Jungen machen? Seit ein paar Tagen aß er wie ein Vögelchen und nicht, wie es sich für einen Zehnjährigen gehörte. Er kränkelte, hatte Temperatur und schlief fast den ganzen Tag. Wahrscheinlich waren die Erlebnisse und Aufregungen der letzten Zeit einfach zu viel für seinen zarten Körper gewesen.
Aber Henriette würde ihn schon aufpäppeln. Mit der richtigen Pflege und gutem, nahrhaftem Essen kam er sicherlich wieder zu Kräften. Morgen würde es ihm schon besser gehen und übermorgen wäre er wieder ganz der Alte. Bestimmt dauerte es nicht länger als eine Woche, bis sie das große Festmahl abhalten konnten.
Sie musste lächeln, als sie daran dachte.
Ihr Blick wanderte zur Tür hinter dem Verkaufstresen. Vielleicht sollte sie mal nach dem Jungen sehen!
Sie ging hinter den dunklen Ladentisch und blieb vor dem Setzkasten stehen, der neben der Tür hing. In den Fächern stand ihr ganzer Stolz: fünf Porzellanpüppchen, keine größer als ein Fingerglied.
»Wo schaust du denn hin, Süße?«, fragte sie die Figur einer pausbäckigen Magd und rückte sie zurecht. »Immer brav zum Eingang sehen! Immer schön die Kunden anlächeln!«
Sie kicherte, dann öffnete sie die Tür.
Eine kurze Treppe führte hinunter in einen felsigen Keller, der vom flackernden Licht zweier Öllampen mehr schlecht als recht beleuchtet wurde.
Als sie hinunterging, knarrten die Holzstufen unter ihren Tritten. Der muffige Geruch nach feuchtem Heu kroch ihr in die Nase. Sicherlich nicht gerade ein betörender Duft, aber sie hatte
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