Der Idiot
Synthese des Lebens verleiht?‹ Diese nebelhaften Ausdrücke kamen ihm selbst sehr verständlich vor und erschienen ihm nur als gar zu schwach. Daran, daß dies tatsächlich »Schönheit und Gebet« und »die höchste Synthese des Lebens« sei, daran konnte er keinen Zweifel hegen und keinen Zweifel für zulässig erachten. Es waren dies ja doch keine traumhaften Visionen, wie sie die Folge des Genusses von Haschisch, Opium oder Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man diesen Zustand mit einem Wort bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblicke des Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: ›Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!‹, so war dieser Augenblick sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie als deutliche Folge jener höchsten Augenblicke standen ihm nur zu klar vor Augen. Er würde darüber natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler, aber die Realität des Gefühls verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch, er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glückes willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne. »In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoshin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß hinfort keine Zeit mehr sein soll . Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoshin zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände gesprochen. ›Rogoshin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt‹, dachte der Fürst bei sich.
Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer, ein dunkles Gewölk umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob von ferne ein Gewitter aufzöge. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und seinem Denken an jeden äußeren Gegenstand, und dies gefiel ihm, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte, aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er sich so sehr loszumachen wünschte. Er versuchte sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.
Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug wie eine dämonische Versuchung auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in Richtung der Petersburger Seite. Er hatte vorhin am Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Petersburger Seite zu zeigen; das hatte dieser auch getan, aber der Fürst war vorhin nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen, das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. ›Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren, sonst hätte Kolja verabredungsgemäß
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