Und morgen am Meer
16. August 1989
Den ganzen Tag über war es schwül und drückend gewesen. Erst jetzt, gegen Mittag, setzte der befreiende Regen ein. Laut prasselten die Tropfen gegen das Fenster und wuschen den Schmutz der vergangenen Wochen und Monate von dem Glas herunter, das nun den Blick auf den traurigen, verwilderten Hof und die beiden weißgelben tschechischen Polizeifahrzeuge in der Einfahrt freigab.
Obwohl wir nicht in den Regen gekommen waren, standen Claudius und ich wie begossene Pudel in dem muffigen, von schwüler Hitze erfüllten Zimmer, das bis auf einen schiefen Stuhl neben der Tür leergeräumt war. Der eingetrocknete Wasserfleck vor uns an der Tapete ähnelte einem riesigen Hundekopf. Über uns an einem schwarzen Kabel schaukelte eine trübe Glühbirne. Irgendwann musste auf dem verblichenen Linoleum unter unseren Füßen ein Teppich gelegen haben. Doch wie die Bilder, die schon vor einiger Zeit von den Wänden genommen worden waren, hatte auch er nur einen Schatten hinterlassen.
Was war mit den Leuten, die hier mal gewohnt hatten? Wisperten ihre Stimmen noch irgendwo in den Ecken, wenn alles still war? War die Wohnung vollgesogen mit ihren Erinnerungen? Komisch, dass mir gerade das jetzt einfiel, wo wir doch eigentlich ganz andere Sorgen hatten.
Und morgen am Meer
war das Versprechen gewesen, das wir uns vor knapp drei Wochen gegeben hatten. Dass wir jetzt hier waren, verdankten wir dem Mann, der mit finsterer Miene vor uns auf und ab ging.
Ein DDR -Grenzer in grauer Uniform, Namen und Dienstgrad hatte er uns nicht genannt. Ihr sitzt mächtig in der Klemme, wollte er uns damit sagen. Aber das wussten wir.
Schließlich blieb er stehen, wippte auf den Füßen hin und her, betrachtete uns und hoffte wohl, dass wir uns vor Angst in die Hose machten. »Du, Fräulein, kommst wegen Ausreißen in den Jugendwerkhof, da werd’n se dich wieder gradebiegen.« Sein Zeigefinger pickte wie ein Hühnerschnabel nach mir. »Und du, Bürschchen kommst in den Knast, mindestens …«
Motorengeräusch vor dem Haus unterbrach ihn.
Etwas Bitteres kroch in meine Kehle. Mein Herz raste. Ich konnte mir denken, wer da kam.
Gab es wirklich keinen Ausweg? Bisher hatten wir doch alles überstanden …
Der Grenzer lächelte triumphierend, dann verließ er den Raum und bellte seinem tschechischen Kollegen irgendeine Anweisung entgegen. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Was kam nun? Die Stasi würde uns verhören, schlimmstenfalls stundenlang. Und dann würden uns die Männer mitnehmen. Aus der Traum vom Meer!
Als der Wagen vor dem Haus anhielt, sah ich zu Claudius. Ohne ein Wort zu sagen, fanden sich unsere Hände, feucht und kalt wie Eis. Die Ader an seinem Hals pochte im Takt meines eigenen Herzschlags. Seine schönen braunen Augen versuchten, tapfer dreinzublicken. Vielleicht lag es an ihnen, oder daran, dass ich ihn nun endlich wieder berühren durfte. Das Schlagen der Autotüren, die Schritte, die die nassen Kiesel in den aufgeweichten Boden drückten, die dumpfen, unverständlichen Stimmen rückten auf einmal weit weg. Und dann war sie wieder da, die Melodie, die uns vor so langer Zeit zusammengeführt hatte.
Als ich die ersten Akkorde summte, stahl sich endlich wieder ein Lächeln auf Claudius’ Gesicht.
Dann öffnete sich die Tür …
Manic Monday
26. Juni 1989. Morgens.
Milena
Seit wir beide zur Jugendweihe einen Stern-Rekorder bekommen hatten, tauschten Sabine und ich Kassetten aus. Eine ganze Woche lang hörten wir sie uns an und redeten bei jeder Gelegenheit darüber.
Den Beginn der letzten Schulwoche des neunten Schuljahrs hatte ich mir aber anders vorgestellt. Seit gut einer Stunde saß ich verschlafen am Schreibtisch und drehte an den Knöpfen des Radios herum. Ein Lied, ich brauchte nur noch ein Lied! Auf meiner Kassette, die ich von Sabine bekommen hatte, war noch ein Rest von Modern Talking, den ich unbedingt überspielen wollte. Aber aus meinem tollen Plan wurde nix, wenn das Rauschen so weiterging.
Manchmal gibt’s eben Tage, da kommen nicht mal Funkwellen über die Mauer.
Das sagte mein Bruder Mirko immer, wenn sich kein Sender einstellen ließ. Meist bekam er es hin, doch nun war er nicht hier, denn er hatte noch ein paar Monate Wehrdienst bei der NVA abzuleisten. Urlaub bekam er nur selten. Dafür aber einen Haufen Schikane, weil er sich nicht für drei, zehn oder sogar fünfundzwanzig Jahre verpflichtet hatte.
Seufzend blickte ich auf das Radio. Das Geräusch, das es von sich gab, klang wie das
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