Der Idiot
gewesen, warum hat sie sich mit ihren Schwestern gezankt, sogar mit Alexandra, der sie sonst immer wie einer Mutter die Hände geküßt hat – so hat sie sie verehrt? Warum gibt sie seit drei Tagen uns allen Rätsel auf? Was hat das mit Gawrila Iwolgin zu bedeuten? Wie kam sie gestern und heute darauf, Gawrila Iwolgin zu loben, und brach dann in Tränen aus? Warum wird in diesem anonymen Brief dieser verdammte »arme Ritter« erwähnt, während sie den Brief, den sie vom Fürsten bekommen hatte, nicht einmal ihren Schwestern gezeigt hat? Und warum ... weshalb, weshalb bin ich jetzt wie eine Verrückte zu ihm hingerannt und habe ihn selbst hierhergeschleppt? O Gott, ich habe wohl den Verstand verloren, daß ich so etwas anrichte! Mit einem jungen Mann von den Geheimnissen meiner Tochter zu reden, und noch dazu... noch dazu von solchen Geheimnissen, die beinah ihn selbst betreffen! O Gott, es ist noch ein Glück, daß er ein Idiot und... und... ein Freund unseres Hauses ist! Aber hat sich Aglaja denn wirklich in eine solche Mißgeburt verlieben können! O Gott, was fasele ich da! Pfui! Wir sind die reinen Originale... man müßte uns alle unter Glas ausstellen, mich zuerst, für zehn Kopeken Eintrittspreis. Das werde ich Ihnen nicht verzeihen, Iwan Fjodorytsch, niemals werde ich Ihnen das verzeihen! Und warum nimmt sie ihn sich jetzt nicht gehörig vor? Sie hatte gesagt, daß sie das tun wolle, und nun tut sie es nicht! Da, da, sie sieht ihn mit weitgeöffneten Augen an, schweigt, geht nicht weg, bleibt da, und dabei hatte sie ihm doch selbst verboten herzukommen... Er sitzt ganz blaß da. Und dieser verdammte, verdammte Schwätzer Jewgenij Pawlowitsch hat das ganze Gespräch an sich gerissen! Sieh mal, wie ihm das Mundwerk geht, keinen andern läßt er zu Worte kommen. Ich würde alles sofort erfahren, wenn ich nur die Rede darauf bringen könnte...'
Der Fürst saß tatsächlich ganz blaß an dem runden Tisch und schien sich gleichzeitig in großer Angst und für Augenblicke in einem ihm selbst unbegreiflichen Entzücken zu befinden, das seine Seele ergriffen hatte. Oh, wie er sich fürchtete, nach jener Seite hinzusehen, nach jenem Winkel, von wo zwei wohlbekannte schwarze Augen beharrlich auf ihn gerichtet waren, und wie er gleichzeitig fast verging vor Glückseligkeit darüber, daß er hier wieder unter ihnen saß und die wohlbekannte Stimme hörte – trotz allem, was sie ihm geschrieben hatte! ›O Gott, was wird sie jetzt sagen!‹ Er selbst hatte noch kein einziges Wort gesprochen und hörte mit Anstrengung dem unaufhaltsam redenden Jewgenij Pawlowitsch zu, der sich selten in so zufriedener, angeregter Stimmung befunden hatte wie jetzt an diesem Abend. Der Fürst hörte ihn lange reden und verstand kaum ein Wort. Außer Iwan Fjodorytsch, der noch nicht aus Petersburg zurückgekehrt war, waren alle vollzählig versammelt. Fürst Schtsch. war ebenfalls anwesend. Wie es schien, hatten sie sich versammelt, um nach einiger Zeit, noch vor dem Tee, zum Konzert zu gehen. Das jetzige Gespräch war offenbar schon vor der Ankunft des Fürsten in Gang gekommen. Bald darauf schlüpfte auch Kolja in die Veranda herein, ohne daß man gewußt hätte, von wo er kam. ›Also wird er hier wie früher empfangen‹, sagte sich der Fürst im stillen.
Das Jepantschinsche Landhaus war luxuriös im Schweizerstil gebaut und auf allen Seiten mit Blumen und Blattpflanzen schön geschmückt. Auf allen Seiten war es von einem kleinen, aber hübschen Blumengarten umgeben. Alle saßen in der Veranda wie vor kurzem beim Fürsten; nur war die Veranda etwas geräumiger und eleganter eingerichtet.
Der Gegenstand des Gespräches, das geführt wurde, schien nicht allen sonderlich zu behagen; dieses Gespräch hatte, wie man merken konnte, seinen Ursprung von einer hitzigen Debatte genommen, und alle hätten gewiß gern das Thema gewechselt; aber Jewgenij Pawlowitsch schien nun erst recht eigensinnig an ihm festzuhalten, ohne sich um die Empfindungen der übrigen zu kümmern, und es war, als würde durch die Ankunft des Fürsten sein Eifer noch erhöht. Lisaweta Prokofjewna machte ein finsteres Gesicht, obwohl sie nicht alles verstand. Aglaja, die abseits, fast in einer Ecke, saß, ging nicht fort, hörte zu und schwieg hartnäckig.
»Erlauben Sie«, sagte Jewgenij Pawlowitsch eifrig, »ich sage nichts gegen den Liberalismus. Der Liberalismus ist keine Sünde, er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder absterben
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