Der Idiot
eigentlichen Edelmut, und so weiter und so weiter in allen Beziehungen. Solche Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen wie alle Menschen in zwei Hauptgruppen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen ist zum Beispiel nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und davon ohne Bedenken das Gefühl hohen Genusses zu haben. Einige unserer Adelsfräulein brauchen sich nur die Haare abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, daß sie durch das Aufsetzen der blauen Brillen ohne weiteres eigene »Überzeugungen« gewonnen haben. Mancher braucht nur die geringste Spur eines allgemein menschlichen guten Gefühls in seinem Herzen zu entdecken, um sofort überzeugt zu sein, daß niemand so empfinde wie er, und daß er ein Vorkämpfer in der allgemeinen Entwicklung sei. Mancher braucht nur von einem andern einen Gedanken wortwörtlich zu übernehmen oder eine Druckseite ohne Anfang und Schluß zu lesen, um sofort zu glauben, daß das seine eigenen, in seinem eigenen Gehirn entstandenen Gedanken seien. Die naive Dreistigkeit, wenn man sich so ausdrücken kann, geht in solchen Fällen erstaunlich weit; all das ist fast unglaublich und begegnet einem doch auf Schritt und Tritt. Diese naive Dreistigkeit, diesen festen Glauben des Dummen an sich und sein Talent schildert uns Gogol vorzüglich in der wundervollen Figur des Leutnants Pirogow. Pirogow zweifelt gar nicht daran, daß er ein Genie ist, ja höher steht als jedes Genie; er ist von einem Zweifel daran so weit entfernt, daß er sich eine Frage dieser Art gar nicht vorlegt, wie denn für ihn Zweifelsfragen überhaupt nicht existieren. Der große Schriftsteller sah sich schließlich genötigt, ihn zur Befriedigung des verletzten moralischen Gefühls des Lesers durchprügeln zu lassen; als er aber sah, daß der große Mann sich nur schüttelte und zur Hebung seiner Kräfte nach der Mißhandlung ein Blätterteigpastetchen verzehrte, da breitete er erstaunt die Arme aus und überließ seine Leser in dieser Situation sich selbst. Ich habe es immer bedauert, daß Gogol den großen Pirogow auf eine so niedrige Rangstufe gestellt hat, denn Pirogow ist so selbstzufrieden, daß für ihn nichts leichter wäre, als sich auf Grund der mit den Jahren und den Beförderungen dicker gewordenen Epauletten einzubilden, daß er ein ausgezeichneter Feldherr sei, und es sich nicht bloß einzubilden, sondern überhaupt nicht daran zu zweifeln; denn er würde sich sagen, man habe ihn zum General befördert, wie solle er da kein Feldherr sein! Und wie viele solcher Leute erleiden dann auf dem Schlachtfeld ein schreckliches Fiasko! Und wie viele Pirogows hat es unter unseren Literaten, Gelehrten und Propagandisten gegeben! Ich sage »hat es gegeben«, aber natürlich gibt es sie auch jetzt...
Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zu der anderen Gruppe, zur Gruppe der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Gruppe ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, daß ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, wodurch dieser kluge Mensch manchmal schließlich restlos in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die nach innen gedrängte Eitelkeit schon vollständig vergiftet. Übrigens haben wir in jedem Fall die Extreme angeführt: bei den allermeisten Mitgliedern dieser klugen Menschengruppe verläuft die Sache keineswegs so tragisch; gegen Ende des Lebens hat sich vielleicht ein mehr oder minder starkes Leberleiden entwickelt, das ist alles. Aber doch vollführen diese Leute, bevor sie sich beruhigen und in ihr Los fügen, manchmal sehr lange, von der Jugend bis zu dem Lebensalter der Fügsamkeit, recht tolle Streiche, und immer in der Sucht nach Originalität. Es kommen sogar seltsame Fälle vor: mancher ehrliche Mensch ist aus Originalitätssucht bereit, sich zu einer gemeinen Handlung herbeizulassen. Auch
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