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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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gewußt, daß er unbedingt schließlich hierhergeraten würde, und stieg mit stockendem Herzschlag zur Veranda hinauf. Es kam ihm niemand entgegen, die Veranda war leer. Er wartete einen Augenblick und öffnete dann die Tür zum Saal. ›Diese Tür pflegten sie nie zu verschließen‹, dachte er flüchtig, aber auch der Saal war leer; es war darin fast ganz dunkel. Unschlüssig blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Alexandra Iwanowna kam mit einem Licht in der Hand herein. Als sie den Fürsten erblickte, war sie erstaunt und blieb wie fragend vor ihm stehen. Offenbar hatte sie nur durch das Zimmer hindurchgehen wollen, von einer Tür zur andern, und nicht im entferntesten erwartet, jemand zu treffen.
    »Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie endlich.
    »Ich ... bin nur so hereingekommen...«
    »Maman ist nicht ganz wohl, Aglaja ebenfalls. Adelaida legt sich gerade schlafen, und ich wollte es auch tun. Wir haben heute den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Papa und der Fürst sind in Petersburg.«
    »Ich wollte ... ich wollte Ihnen jetzt... einen Besuch machen...«
    »Wissen Sie, was die Uhr ist?«
    »N-nein...«
    »Halb eins. Wir legen uns immer um ein Uhr schlafen.«
    »Ach, ich dachte, es... wäre halb zehn.«
    »Nun, es macht nichts!« antwortete sie lachend. »Aber warum sind Sie nicht vorhin gekommen? Sie wurden vielleicht sogar erwartet.«
    »Ich... dachte...«, stotterte er und schickte sich an, wieder fortzugehen.
    »Auf Wiedersehen! Morgen werde ich alle durch diese Geschichte zum Lachen bringen.«
    Er schritt auf dem Weg, der sich um den Park herumzog, seinem Landhaus zu. Das Herz pochte ihm heftig; seine Gedanken waren in arger Verwirrung, und alles um ihn herum erschien ihm wie ein Traum. Und plötzlich stand, ganz wie vor kurzem, wo er zweimal nach derselben Traumvision erwacht war, diese Vision wieder vor ihm. Dieselbe Frau trat aus dem Park heraus und blieb vor ihm stehen, als ob sie hier auf ihn gewartet hätte. Er fuhr zusammen und machte halt; sie ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. ›Nein‹, sagte er sich, ›das ist kein Traumbild!‹
    So stand sie ihm denn endlich zum erstenmal seit ihrer Trennung von Angesicht zu Angesicht gegenüber; sie sagte etwas zu ihm, aber er blickte sie nur schweigend an; sein Herz war zu voll und schmerzte ihn heftig. Oh, nie konnte er in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück, aber sie erhaschte seine »Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht.
    »Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle von dem Rasiermesser? Hehe!«
    »Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend.
    »Wer weiß, vielleicht auch nicht!« sagte Rogoshin leise, als spräche er mit sich selbst.
    Der Fürst antwortete nicht.
    »Nun leb wohl!« sagte Rogoshin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?«
    »Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz.
    »Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoshin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.

Vierter Teil
I
    Es war ungefähr eine Woche seit dem Tage vergangen, an dem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.
    Es gibt Leute, von denen man schwer etwas aussagen kann, das uns diese Menschen mit einemmal und vollständig in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen stellt; das sind diejenigen, die man meist als die »üblichen«, als »Masse« bezeichnet und die tatsächlich in jeder Gesellschaft die weitaus überwiegende Mehrheit bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und sie so plastisch und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem

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