Der Implex
darum.
Wenn nicht, leiden sie stumm.
Die Hartnäckigkeit der Vorstellung von einer anderen Welt, in der alles besser wäre, geträumt von Sklaven auf antiken Großbaustellen wie von Erwerbslosen im Internetcafé, ist das dem Leben der Leute Allgemeine, sofern sie überhaupt sprechen, denken, sich etwas vorstellen können. Die Not, die sie jeweils leiden, ist ihr mäßig Besonderes. Zwischen diesen beiden spielen sich die traurigen Geschichten ab, von denen der Sozialrealismus seit Zola erzählt: kurzes Leben, vergeudete Kraft, Herzen im Streit mit sich selbst, unleserliche Liebe, am Schluß das flache Grab auf dem erdballgroßen »Friedhof gescheiterter Pläne, erlittener Wirklichkeit und gestutzter Flügel«, von dem Cesare Pavese schrieb.
Ist das Besondere vermeidbar; und könnte sich, wenn man es denn änderte, das ersehnte Allgemeine, die Gerechtigkeit fürs gesellschaftlich realisierte Gattungswesen, erfüllen? Ein Tagtraum ohne Folgen, denn was dem entgegensteht, ist der Lauf der Dinge selbst, sagt der gut abgehangene Opportunismus des Alltagsverstandes: Nicht alle Menschen essen und trinken eben ausreichend, geschweige gut; sehr wenige werden medizinisch so versorgt, wie das heilkundliche Wissen der jeweiligen Epoche, in der sie leben, zuließe; ein sehr kleiner Teil der Weltbevölkerung wohnt in hellen Räumen mit nützlichen, gar nicht zu reden von schönen Möbeln; nicht überall können Personen, wenn sie sich verlieben, miteinander anfangen, wozu sie Lust haben, solange daraus niemand ein Schaden entsteht; nur wenige kleiden sich zweckmäßig, geschweige nach einem eigenen Geschmack; kaum jemand kann sich überhaupt aussuchen, wann andere auf ihre oder seine Bedürfnisse, Wünsche oder Ansichten achten.
Selbst im von materiellen Interessen scheinbar sauber zu sondernden Ideellen sieht es trübe aus: Schon der Zugang zu den Gegenständen der Neugier, vom Klatsch übers wissenschaftlich Erhärtete bis zur hinreißenden Spekulation und endlich der genußfähigen Betrachtung naturgegebener oder menschengemachter Schönheit ist begrenzt durch Bestimmungen, über die niemals von denen abgestimmt wurde, die ihnen unterworfen sind.
Es hat historische Abschnitte gegeben, in denen diese Bestimmungen sich für die Einzelnen schon veränderten, wenn man Gebietsgrenzen zwischen Herrscherdomänen überschritt, nicht erst solche zwischen Herrschaftsweisen. Seitdem ist die gedachte »ganze Welt«, von deren Grenzenlosigkeit Erlösungsreligionen, größenwahnsinnige Machthaber und schließlich die neuzeitlichen Wissenschaften stets ausgegangen sind, immerhin zur wirklichen ganzen Welt geworden – ein Vorgang, den man »Globalisierung« genannt hat, weil es auf Schönheit der Ausdrücke nicht ankommt, wo aus einer Tautologie (die Welt ist die Welt) plötzlich ein Prozeß wird. »Globalisierung« bedeutet einfach, daß selbst die Reichsten und Mächtigsten plötzlich in der Falle sitzen, die, nach einem Wort von Hermann Peter Piwitt, jetzt mit ihrem Geld zwar überall hinkommen, aber nicht mehr raus.
Was sich Menschen unter Fortschritt vorstellen, hat im Vollzug jener Weltwerdung ihrer Welt eine Wandlung erfahren, die in Gegenrichtung zur Vereinheitlichung der Bestimmungen, unter denen die Teilhabe am Reichtum steht, überall in Myriaden Kämpfe und Choreographien auf unübersehbar zahlreichen Schauplätzen zersplittert ist. Wer heute ein halbes Jahrhundert alt ist, hat die letzte Etappe dieses Prozesses, in der die polyfokalen sozialen Kämpfe der weltwerdenden Welt anfingen, sich selbst zu verzehren, erlebt: Als in den reichen Ländern in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht nur unter dem Eindruck einer Energie-, das heißt: Ölkrise, die keine technischen, etwa förderungsleistungsabhängigen, sondern politische, im engsten Sinn bereits geostrategische Ursachen hatte, die ersten sozialen Bewegungen auftraten, die den Zweifel an der Übersetzbarkeit wissenschaftlicher und technischer Zugewinne in soziale in die Parlamente und die Massenmedien trugen, dauerte es noch Monate, bis Rohstoffpreissteigerungen auf dem Energieträgermarkt ihre Folgen von Industrie zu Industrie weitergegeben hatten – die damals vielberufene »Lohn-Preis-Spirale« drehte sich in beiden Richtungen mit geologischer Langsamkeit. Heute aber, am Ende der Etappe, schlägt eine Irritation dieser Art in Millisekunden durch: Computermodelle des Gesamtproduktionsprozesses und Marktgeschehens steuern Käufe und
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