Der Jakobsweg
schon viel von mir an Verteidigung gelernt hat, unerschrocken stehen. Sie sagte kein Wort. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber ich glaube, sie hat den bevorstehenden Angriff allein mit ihrem Blick abgewehrt. Alles in allem sehr souverän. Das Horntier schnaubte zwar durch die Nasenlöcher, gab aber den Weg frei.
„Du blöde Kuh, du blöde, galicische“, rief ich ihr nach, wenn auch nur ganz leise. Ich gebe zu, ich hatte Angst, eine Heidenangst... um Inka.
Erst gegen acht werde ich wach. Es ist schön warm im Zimmer. Tila und ich haben die Nacht allein verbracht. Die Tür hatte ich nicht verschlossen, es hätte ja noch ein Pilger kommen können. Früher hätte ich bestimmt Angst gehabt, aber jetzt...
Wovor sollte ich Angst haben? Ich bin so sicher geworden, in mir, mit einem warmen Gefühl für alles um mich herum. Wer sollte mir etwas anhaben können?
Angst hat man doch nur, wenn man jemandem misstraut, wenn man keine guten Erfahrungen gemacht hat und im anderen gleich das Schlechte vermutet. Sofern Vertrauen und Liebe fehlen, können leicht Verwirrung, Verzweiflung, Angst und Gewalt entstehen.
Entsteht nicht gerade Gewalt auch daraus, dass Menschen zutiefst verletzt und gedemütigt wurden? Und ist diese Gewalt nicht letztlich ein Hilfeschrei aus der Angst heraus, sodass der letzte Funke Liebe erstickt wird?
Angst lässt Liebe sterben.
Ich bin unendlich dankbar, dass ich viele gute Erfahrungen in meinem Leben machen durfte. Sicher hat es auch die schlechten gegeben, die mich wütend, hilflos und traurig gemacht haben, aber auch sie haben mir gezeigt, dass es richtig war zu vertrauen und an die Liebe und das Gute zu glauben.
Mit einem guten Gefühl im Bauch packe ich meinen Rucksack. In Sarria, einer modern anmutenden Stadt, lege ich eine erste Kaffeepause ein. Die Bar ist voller Menschen; Tila scheint sich sichtlich unwohl zu fühlen.
Also weiter durch die Altstadt; hier kaufen wir ein. Es macht mir jedes Mal einen Riesenspaß, diese kleinen Geschäfte zu betreten, in denen ein freundlicher Herr oder eine freundliche Dame bedienen. Und was immer das Herz begehrt, sie ziehen es aus irgendeiner Schublade oder holen es aus der angrenzenden Kammer. Es ist die reinste Freude hier einzukaufen.
Jetzt geht es wieder über eine kleine Brücke hinaus in die Natur. Ich höre, wie fast jeden Morgen, einen Kuckuck rufen; ein mir vertrauter Gesang. Es ist aber nicht nur der Kuckuck, ich vernehme auch anderes Vogelgezwitscher.
Die Apfelbäume stehen in voller Blüte. Bienen sammeln geschäftig Nektar ein. Mitten im Frühling, wenn alles keimt, wächst und gedeiht, liegt bereits der Sommer in der Luft. Galicien ist schön, dieses satte Grün, die vielen Blumen, die kleinen Brücken sowie die Menschen mit ihren breitknochigen Gesichtern und ihren freundlichen, warmen Augen.
Es geht über Pisten, corredoiras, die schon zur Zeit der alten Römer existierten; das sind Wege mit großen Steinen, die oft von Wasser umspült sind. Ich habe den Eindruck, als gehe ich durch einen Flusslauf. Aber was macht das schon? Ich folge Tila. Sie weiß genau, wo der Weg am besten zu begehen ist.
Unser Pfad führt durch kleine Dörfer, an vermoosten Mauern vorbei und in Wälder mit uralten Bäumen.
Meine Freunde, die Bäume, meine altvertrauten Gesellen, begleiten mich auf meinem Weg. Wenn sie erzählen könnten, was sie erlebt haben, manche lustigen und traurigen Geschichten kämen aus dem Verborgenen, mal Freund, mal Feind, Glück und Unglück. Und nichts könnte sie von ihrem Platz verweisen; sie stehen fest verankert als Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Jedem, der vorbeikommt, spenden sie Schatten und Schutz, ohne zu fragen: Wie heißt du, welche Nationalität hast du, wie viel kannst du zahlen?
Bald sehen wir auf der Anhöhe Portomarín liegen. Das alte Portomarín ist in einer Talsperre untergegangen, über deren Staumauer wir das neue Dorf erreichen. Die San-Nicolás-Kirche ist seinerzeit Stein für Stein abgetragen und hier oben wieder aufgebaut worden.
Eine wunderbare, blau schillernde Fensterrose ziert das Hauptportal.
22. Wandertag: Portomarín – Palas de Rei – 34 km
Puh, es ist verdammt warm geworden. Ich trippele über Feldwege und kleine Straßen, bis wir um die Mittagszeit endlich Rast machen. Während ich den Schatten bevorzuge, lässt sich Inka die Sonne auf den Bauch scheinen. Ich bin froh, dass sie nach einer Weile einschläft, denn anders ist sie in ihrem Wandertrieb nicht zu bremsen. Warum
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