Der Jakobsweg
de Compostela trennen. Es werden immer weniger und weniger.
Es ist ein unbeschreibliches Gefühl! Ich freue mich schon sehr auf den morgigen Tag, auf die Ankunft und dass ich Walti wiedersehe, der uns abholen will. Es kommt mir so vor, als könnte ich die letzten Stunden gar nicht mehr erwarten.
Während meiner Wanderung habe ich sowohl über ihn als auch über unsere Beziehung nachgedacht. Mit seinem ausgeglichenen Wesen, das mich manches Mal zur Weißglut getrieben hat, hat er mir gleichzeitig die Augen geöffnet und mich gelehrt, dass es besser sein kann, eine Entscheidung zunächst zu überdenken, anstatt rein gefühlsmäßig zu handeln.
Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Unser Feldweg ist verschwunden. Wir müssen über eine Schnellstraße gehen; zu allem Überfluss hat es auch noch eine Baustelle.
Ich befinde mich jetzt bereits im Einzugsbereich des Flughafens von Santiago und bin einem Riesenkrach ausgesetzt. Über uns donnert ein startendes Flugzeug hinweg. Mit viel Mühe versuche ich mich nicht über diesen Höllenlärm aufzuregen. Morgen wird Walti auch dabei sein. Mit seiner Cessna verursacht er vielleicht nicht ganz so viel Krach wie die großen Maschinen, aber immerhin.
Ich muss unwillkürlich daran denken, wie gern ich selbst fliege, und erinnere mich an meine erste Solo-Platzrunde. Ich hielt das Steuer fest in der Hand, voller Power... und dann hob meine Maschine ab und stieg hoch und höher... Mit vor Aufregung feuchten Händen schwebte ich dem Himmel entgegen.
Nicht vergessen werde ich auch den Sonnenuntergang in Florida, den ich gleich zweimal erlebte.
Vern, dieser liebe Mensch, der versucht hatte, mir das Fliegen beizubringen, stieg mit mir in den rot verfärbten Himmel auf. Unter uns das Meer.
Während die Sonne gigantische Bilder in die Wolken malte und mir Heerscharen von Engeln vorgaukelte, die plötzlich wieder im Nichts verschwanden, saßen wir andächtig im Cockpit und waren sprachlos.
Nachdem die Sonne untergegangen war, stiegen wir noch höher in den Himmel und die Sonne zeigte sich uns ein zweites Mal, um dann unwiderruflich für diesen Tag im Meer zu versinken.
Ich saß einfach nur da; vor unsäglichem Glück liefen mir Tränen die Wangen herunter. Auch Vern, der als Flugkapitän bei einer großen amerikanischen Fluggesellschaft dieses Spektakel schon oft gesehen hatte, schien zutiefst gerührt zu sein.
Das sind Erlebnisse, die ich nie vergessen werde. Zugleich empfinde ich den Zwiespalt zwischen Gefühl und Verstand. Einerseits der enorme Lärm, die unnatürliche Geschwindigkeit, mit der man über alles hinwegfliegt und die Welt mit großem Abstand betrachtet, und andererseits dieses fantastische Gefühl des Abhebens. Jedes Mal packt es mich wie einen Zauber, wenn ich das Steuer in den Händen halte. Mit jeder Faser meines Körpers spüre ich dann das Vibrieren der Maschine, die mit mir in den Himmel strebt, auf mein Ziehen wartet und leicht wie ein Vogel durch die Luft gleitet...
Schluss jetzt mit den Erinnerungen, schließlich liegen noch einige Kilometer zwischen mir und Santiago de Compostela.
Gedankenverloren laufe ich an den Antennen des galicischen Fernsehens vorbei und erreiche den Monte del Gozo. In dem riesigen Pilgerkomplex ist es momentan ruhig. Ich kann nur ahnen, was hier im Sommer los ist, wenn der große Ansturm der Pilger beginnt. Trotzdem bange ich ein letztes Mal um unser Nachtlager.
Manuel, der die Schlafplätze zuteilt, ist sehr nett. Er lacht und sagt, Tila dürfe im Zimmer übernachten, sofern kein anderer Pilger etwas dagegen einzuwenden habe. Er zwinkert mir zu. Mir ist sofort klar, er wird sich sehr darum bemühen, dass es keine Probleme geben wird.
Voller Erwartung begebe ich mich auf den Aussichtshügel des Monte del Gozo, den ,Berg der Freude’.
Der Name spiegelt das Glücksgefühl wider, von dem die Pilger erfüllt waren, nachdem sie trotz aller Strapazen den religiösen und kulturellen Mittelpunkt Galiciens, nämlich Santiago de Compostela, erreicht hatten.
Mein Blick folgt den beiden Pilgerstatuen, die auf die Stadt weisen. Unter den vielen Klöstern und Kirchen nimmt die Kathedrale mit ihren Türmen eine herausragende Stellung ein.
Still berührt lasse ich mich hier oben auf der Wiese nieder. Pilger aus allen Jahrhunderten hatten von unzähligen Szenen überwältigender Ergriffenheit berichtet, die sich an dieser Stelle abgespielt haben sollen.
Und nun bin auch ich da.
Wir sind da. Tila hat mich über Tage und Wochen
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