Der Jakobsweg
löst sich der Nebel auf und ich kann weit ins Land sehen.
Die Vegetation verändert sich. Links und rechts wächst hohes Heidekraut und vermischt sich mit kleinen tiefblauen Blumen.
Die beiden Dörfer, die wir als nächstes passieren, wirken sehr ungepflegt; nicht wegen der Kuhfladen, die überall auf der Straße liegen, sondern weil die Bewohner an allen möglichen Ecken Müll gestapelt haben.
Danach führt der Weg an sehr alten Bäumen vorbei, die mir auf Anhieb lieb und vertraut sind. Stehen einfach da, sind fest mit der Erde verwurzelt und strecken ihre Zweige in den Himmel, geben geschmeidig dem Wind nach und sind doch stark und leben in ihrem ureigenen Zyklus.
Vielleicht lachen sie insgeheim über meine Gedanken, die Gedanken eines Menschen, der nur eine relativ kurze Zeit in dieser Welt lebt und dem so vieles ungeheuer wichtig erscheint. Vielleicht sagen sie: Die Jahreszeiten wechseln, Jahrhunderte gehen ins Land und dennoch glauben die Menschen: er sei das Wichtigste auf dieser Erde, jeder zu seiner Zeit.
An einem Bach, der über die Ufer getreten ist und über den Weg plätschert, ziehe ich mir die Schuhe aus und tauche mit meinen Füßen in die Matsche ein. Ich mag es sehr, wenn die Erde an den Zehen vorbeiquillt und nachher das frische Wasser alles wieder abwäscht.
Nach einer längeren Pause ziehen wir weiter. Der Weg ist nun von Kastanien, Birken, Eichen und Pappeln gesäumt. Die Sonne, die einen Moment durch die Wolken lugt, lässt das frische Grün erstrahlen.
Es geht wieder bergauf und ich genieße den herrlichen Blick ins Tal, als wir aus einem Wald hinaustreten. Neben uns blühen auf einem Hang Erika und gelb leuchtende Pflanzen, die ich nie zuvor gesehen habe. Dass es regnet, kann dieser Schönheit keinen Abbruch tun.
Tila humpelt die letzten zehn Kilometer bis Calvor hinter mir her. Sie tut mir Leid. Vermutlich wird sie froh sein, wenn sie endlich alle viere von sich strecken kann. Und ich sehne mich danach den Rucksack abzustreifen, meine Schuhe auszuziehen...
Aber die Herberge ist geschlossen.
Was tun? Ich bin mir absolut sicher, dass ich heute Nacht hier schlafen werde. So halte ich ein vorbeifahrendes Auto an. Die Fahrerin ist freundlich und hilft mir jemanden zu finden, der das Haus aufschließt. Es ist ein junges Mädchen, das mit dem Schlüssel kommt und mir erklärt, wie die Heizung funktioniert und wo die Betten sind.
21. Wandertag: Calvor – Portomarín – 28 km
Obwohl wir verhältnismäßig spät aufgestanden sind, trödelt Inka unterwegs. Kaum sind wir in einem kleinen Städtchen angekommen, will sie unbedingt Kaffee trinken.
In der Bar glotzen mich alle an, als ob ich von einem anderen Stern käme. Ich bin froh, dass wir bald wieder draußen sind.
In der Altstadt kauft Inka ein. Da ich den Metzgerladen nicht betreten darf, weiß ich nicht, ob sie ein paar ,Wienerli’ für mich aufgetrieben hat. Ich kann es nur hoffen.
Bald darauf heißt es: Wassertreten. Das hat nichts mit der allgemein bekannten Kneipp-Behandlung zu tun, bei der man in einem Bach oder einem Becken auf und ab geht. ,Corredoiras’, erklärt Inka, sind Wege mit durchfließendem Wässer und großen Steinen. Da es gar nicht so leicht ist, dort einigermaßen trocken durchzukommen, übernehme ich die Führung; schließlich fühle ich mich für Inka verantwortlich. Deshalb suche ich sorgfältig die Steine aus, auf die wir treten können.
Inka scheint sehr zufrieden mit mir zu sein. Sie hat zwar pitschnasse Füße, aber sie ist weder ausgerutscht noch ins Wasser geplumpst. Als Dankeschön gibt es für mich eine kleine Wurst. Leider kein, Wienerli’, aber auch nicht schlecht. Daran könnte ich mich eine Zeit lang schon gewöhnen.
Die Hunde, denen ich bisher begegnete, waren meistens angekettet. In diesem Landstrich dagegen laufen sie frei herum. Vermutlich sind sie deshalb so freundlich. Sobald ich nämlich in ein Dorf ein marschiere, versammeln sie sich und begrüßen mich mit freudigem Gebell... wie einen siegreichen Feldherrn.
Das macht einen Heidenspaß.
Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen. Unterwegs hatte ich ein einziges Mal eine Heidenangst. Wir gingen nichts Böses ahnend durch ein Dorf, als plötzlich eine Horde gehörnter Vieh eher auf uns zu kam.
Inka, jetzt bist du zur Abwechslung mal an der Reihe!, dachte ich und hielt mich ein wenig im Hintergrund. Ais eines dieser wiederkäuenden Ungeheuer mit seinen Hörnern direkt auf uns zielte und mit den Hufen scharrte, blieb Inka, die
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