Der Junge aus dem Meer - Roman
Himmel bot. Die meisten Leute standen an der Reling, doch ich blieb an der Treppe nahe einer Gruppe blonder Mädchen stehen, die in meinem Alter zu sein schienen.
Die Mädchen standen dicht zusammengedrängt, lachten, und ich spürte einen Stich von Eifersucht. Sie alle trugenwinzige Shorts und Flip-Flops mit Plateausohlen, die bestens geeignet schienen, ihre langen, sonnengebräunten Beine und vollkommen geformten Zehen perfekt zur Geltung zu bringen. In Gedanken stellte ich mir vor, wie ich neben ihnen stand – ein blasses, dünnes, dunkelhaariges Mädchen in rotgestreiftem Hemd, Jeans und schwarzen Chucks –, und verzog das Gesicht. Wir hätten ebenso gut verschiedenen Spezies angehören können.
Während der Pubertät hatte ich null Interesse an Lipgloss oder Pyjamapartys gehabt. Meine Vorstellung von Spaß hatte darin bestanden, Meister Propper und Backpulver in Wassergläsern zu vermischen und die Ergebnisse zu notieren.
»Miranda bereitet ihren Zaubertrank«, neckten mich meine Freunde, doch ich korrigierte sie: Ich machte
Experimente
. Mein seltsames Verhalten war eine logische Konsequenz. Meine Eltern waren beide Chirurgen, und ich war mit Forscherblut in den Adern geboren worden. Es war daher keine Überraschung, als ich mit vierzehn an der Bronx High School of Science angenommen wurde, wo ich gerade die Grundstufe beendet und dabei Einsen in Fortgeschrittener Biologie und Chemie eingeheimst hatte (mich aber mit Dreien in Englisch und Geschichte abmühte).
Mit einem heftigen, ganz und gar nicht damenhaften Hopser löste sich die
Princess of the Deep
vom Kai und schlingerte hinaus auf die See. Unvermittelt sackten meine Knie ein und reflexartig griff ich Halt suchend nach dem Arm des Mädchens direkt neben mir.
»Alles in Ordnung, Hase?«, fragte sie. Ihre Augen lagen hinter einer dicht anliegenden Sonnenbrille verborgen, doch an ihrer Haltung spürte ich, wie sie mich abschätzig anstarrte. »Du meine Güte«, sagte sie und drehte sich zu ihren Freundinnen. »Sie hat ihre Seebeine noch nicht!« DasKichern der anderen Mädchen schien förmlich zu explodieren; eine Meute hübscher Piranhas.
Ich zog meine Hand zurück, meine Wangen kochten angesichts dieser Peinlichkeit.
Seebeine
. Was für ein seltsamer Ausdruck. Als ob Menschen Flossen bilden könnten, um sich dem Leben auf dem Wasser anzupassen.
Schon richtig, ich hatte vergessen, wie schwierig es war, auf einem Schiff das Gleichgewicht zu halten. Ich war zwar nicht völlig als Landratte aufgewachsen, doch mehr oder weniger; mein Zuhause war Riverdale, ein schmaler, ruhiger Streifen der Bronx, der als Einziger der fünf New Yorker Stadtbezirke Teil des Festlandes ist. Als ich das letzte Mal auf einer Fähre gestanden hatte, war ich neun. Es war kurz vor der Scheidung meiner Eltern, und mein Vater – der vielleicht seine zunehmenden Schuldgefühle bekämpfte oder sich womöglich an seine neu gewonnene Freiheit gewöhnte – hatte mich und meinen älteren Bruder Wade auf einen Ausflug zur Freiheitsstatue mitgenommen. Die Fahrt nach Liberty Island war unruhig gewesen, und ich hatte meiner Seekrankheit getrotzt, indem ich mich über die Reling gebeugt und nach Meerestieren und -pflanzen Ausschau gehalten hatte.
Was mir auch jetzt, in diesem Moment, eine reizvolle Aufgabe zu sein schien.
Bedächtig entfernte ich mich von den Südstaaten-Prinzessinnen, die sich in diesem Moment kreischend über einen Bikini hermachten, den eine von ihnen erstanden hatte. An der Reling stellte ich mich neben einen blonden, ungefähr sieben Jahre alten Jungen und seine erschöpft wirkenden Eltern. Die Gischt kühlte mein gerötetes Gesicht, und ich klemmte den Seesack zwischen meine Füße.
Seemöwen kreischten und zogen im Tiefflug über unsere Köpfe hinweg; der Ozean war eine gleißende Fläche ausAquamarin, die sich in allen Richtungen kräuselte. Das von kleineren, schnellen Booten hinterlassene Kielwasser bildete Muster wie ein Strähnengewirr im glatten Haar eines Mädchens. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus; meine Anspannung war mir überhaupt nicht bewusst gewesen. Die Schule, meine Freunde und der Schatten meiner Traurigkeit schienen unmessbar weit hinter mir. Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in meinem Brustkorb breit. Vielleicht war ja die Entfernung von zu Hause genau das, was ich brauchte.
»Was ist
das
denn?«, rief der blonde Junge und unterbrach meinen Gedankengang. Mit weit aufgerissenen Augen steckte er einen plumpen Finger zwischen den
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