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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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undfragte mich schon, ob ich würde über Bord springen müssen, wenn er irgendwas Komisches machte. Ich war dank frühkindlichen Unterrichts am YMCA eine ausgezeichnete Schwimmerin. »Du warst wohl noch nie auf Selkie Island«, fuhr er selbstsicher fort. »Sonst würdest du die vielen, vielen seltsamen Kreaturen kennen, die sich in diesen Gewässern herumtreiben.«
    Er deutete auf den Ozean hinaus, und trotz meiner Überzeugung fühlte ich, wie mir ein Schauer den Rücken hinunterlief. Die Fähre kämpfte sich über einen hohen Wellenkamm, sodass sich mir zudem der Magen umdrehte.
    »Hören Sie«, sagte ich mit fester Stimme. »Meine Mutter kommt ursprünglich aus Savannah. Als sie jung war, verbrachte sie jeden Sommer auf Selkie Island, und sie hat niemals irgendwelche …«
    Frustriert hielt ich inne. Tatsache war, dass meine Mutter überhaupt nicht gern über ihre Vergangenheit sprach. Ich hatte nur bruchstückhaft von ihren Ferien auf Selkie gehört, wo ihre Familie ein großes Sommerhaus besaß. Und die vor meiner Abreise aus New York durchgeführte Google-Wikipedia-Recherche hatte, abgesehen von den geografischen Koordinaten und den Klimadaten der Insel, nicht viel ergeben. Ich wusste daher, dass Selkie zehn Kilometer lang und es dort häufig stürmisch war. Mehr nicht.
    »Also …« Matrosenmütze strich sich über seinen Bart. »Dann solltest du zumindest von den Seeschlangen wissen, die in der Brandung vor Siren Beach schwimmen. Die Leute glauben, dass sie im achtzehnten Jahrhundert dabei geholfen haben, ein Sklavenschiff zu befreien, indem sie den Kapitän und seine Mannschaft vertilgten. Ein ziemlich bissiger Haufen. Und …«, fügte er hinzu, stellte sich neben mich und legte seine Ellbogen auf die Reling, »… es gibt Gerüchte,dass Meerjungfrauen und Meermänner die See um Selkie bevölkern, aber getarnt als menschliche Wesen an Land leben.«
    »Gut zu wissen«, murmelte ich und sah auf meine Uhr. Laut Fahrplan sollten wir in zwei Minuten ankommen. Gott sei Dank.
    »Natürlich grassieren hier in Dixieland jede Menge Legenden«, fuhr Matrosenmütze unbeirrt fort. Er schielte aufs Wasser hinaus. »Doch die Überlieferungen aus Selkie tragen eine Spur von Wahrheit in sich.«
    Sein Tonfall war so eindringlich, seine Wortwahl so ausgesucht, dass ich es plötzlich kapierte – er hatte diese Ansprache schon unzählige Male zuvor gehalten. Der Mann hatte echtes Talent! Wahrscheinlich hatte ihn das Besucherzentrum von Selkie Island losgeschickt, damit er auf den Fähren herumfuhr und die Touristen mit diesen Märchen anlockte. Vielleicht gab es sogar ein Volkskundemuseum auf der Insel, das von Matrosenmützes Glattzüngigkeit lebte.
    Ich war kurz davor, mich ein für alle Mal aus dieser Konversation zu befreien, als Matrosenmütze seinen Arm ausstreckte und auf etwas zeigte. »Ah!«, rief er. »Da ist sie ja.«
    Ich wandte mich um – und sah nichts als Nebel. Es war ein klarer, heller Nachmittag, sodass der schwere Dunst sich aus dem Nichts heraus materialisiert zu haben schien. Eine höchst seltsame Mischung aus Vorfreude und gespannter Vorahnung überspülte mich.
    »Die meisten Schiffe können Selkie nicht mal finden«, erklärte Matrosenmütze, als wir durch den Nebel glitten, der sich wie feuchter Qualm anfühlte. »Als ob sich die Insel hinter einem Dunstschleier verbirgt.«
    Ich muss leider zugeben, dass seine fantasievolle Beschreibung zutraf.
    Hinter dem Nebel erschien ein üppiger Streifen lehmigen Lands, über das Bäume und Häuser verstreut lagen. An der Spitze war eine sonnengebleichte Anlegestelle mit vereinzelten, wie Miniaturen anmutenden Menschen. Über der Anlegestelle hing, an zwei Holzpfählen befestigt, wodurch das Ganze wie ein Tor aussah, ein altertümlich wirkendes Schild. Darauf standen in fetten schwarzen Buchstaben – Schriftzügen ähnlich, die ich auf alten Landkarten gesehen hatte – die Worte:
     
    Seeleute, hütet euch vor Selkie Island!
    Hier gibt es Ungeheuer!
     
    Ich verdrehte die Augen. Matrosenmütze hatte dieses Schild wahrscheinlich selbst angefertigt. Ich dachte an die roten, durch die Straßen von Manhattan tourenden Doppeldeckerbusse und die Mini-Empire-State-Buildings, die am Broadway verkauft wurden. Die Läden auf Selkie Island platzten sicher schon aus allen Nähten vor lauter Augenklappen tragenden Gummienten, die ›Buh!‹ riefen, wenn man sie zusammendrückte, und sexy Meerjungfrauenkostümen einschließlich muschelverzierter BHs. Das Geschäft mit dem

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