Der Junge aus dem Meer - Roman
Veranda. Der Rasen war mit Unkraut übersät und viel zu lang, und die Fliegengitter der Erkerfenster waren zerrissen. Doch es war ganz klar, dass das Haus, ähnlich einer feinen älteren Dame, einst eine echte Attraktion gewesen war.
»Unmöglich«, erwiderte ich mechanisch. Mein Hirnkonnte die Fakten nicht verarbeiten. Ich spähte umher und erwartete beinahe, irgendwo den Lauf eines Gewehrs zu entdecken, der angesichts unseres unerlaubten Betretens auf uns gerichtet war.
Ganz realistisch betrachtet: Auf welche Weise konnten Mom und ich auch nur annähernd mit diesem
… Anwesen
in Verbindung stehen? Ein Anwesen, das vielleicht als Drehort für einen Film über den Bürgerkrieg hätte dienen können, aber nicht als Wohnort für normale Menschen wie Mom und mich.
»Sieh mal«, sagte Mom und führte mich zu dem verrosteten Briefkasten. In abgesplitterter weißer Farbe standen folgende Worte darauf geschrieben:
Der Alte Seemann
Mr. and Mrs. Jeremiah Hawkins
10 Glaucus Way
Selkie Island, Georgia 31558
Schlagartig kehrte meine Erinnerung zurück. Jeremiah Hawkins war mein Großvater, der gestorben war, als meine Mutter noch zur High School ging. Aber …
»Wer ist ›Der Alte Seemann‹?«, fragte ich und reckte meinen Kopf, um den Schriftzug genauer untersuchen zu können.
Mom gab ein kleines Lachen von sich. »Ach, das war deine angeberische Großmutter. Sie benannte das Haus nach ihrem Lieblingsgedicht, ›Die Ballade vom Alten Seemann‹.« Als ich sie fragend anblickte, fügte sie hinzu: »Na, du weißt doch, ›Wasser, Wasser überall, und nirgends ein Tropfen zu trinken.‹? Samuel Taylor Coleridge? Der Albatross?« Ich schüttelte den Kopf, und sie gab mir einen kleinen Stups.»Oh, Miranda. Du solltest wenigstens ab und zu etwas anderes lesen als deine Biologiebücher.«
Ich seufzte und folgte ihr den gewundenen Pfad zum Haus hinauf. Irgendwie fand Mom zwischen ihren Operationen und medizinischen Konferenzen immer noch die Zeit, Romane oder Gedichtsammlungen zu lesen. Ich hingegen fand so etwas wie Prosaliteratur einfach viel zu … prosaisch.
Wir kletterten die zerbröckelten Verandastufen herauf, und als Mom in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel kramte, betrachtete ich den blau-weißen, trotz seines Alters unvergilbten Rettungsring, der wie ein Kranz an der Tür hing.
»Wann hat hier zuletzt jemand gewohnt?«, fragte ich. Mom selbst war erst gestern angekommen.
»Vor ungefähr zwei Jahren«, erwiderte Mom und schloss die Tür auf. »Als ich etwa in deinem Alter war, nachdem mein Vater starb«, sie räusperte sich, »entschied Isadora, dass die Familie die Sommer hier nicht länger verbringen sollte. Sie kam ab und an hierher. Doch als ihre Gesundheit sie im Stich ließ, schloss sie den Alten Seemann ab und blieb ein für allemal in Savannah.«
***
Eine Duftmischung aus Schimmel, Staub und Möbelpolitur schlug uns entgegen, als wir in die große Vorhalle traten. Ich spürte leichte Aufregung in mir hochsteigen. Dann blieb die Spitze meines Turnschuhs an einem losen Dielenbrett hängen und ich stolperte.
Seebeine
, fiel mir ein. Um mein Gleichgewicht zu halten, griff ich nach einem flachen Stück Karton, das gegen die Wand gelehnt war und darauf wartete, zu einer Schachtel gefaltet zu werden.
»Das Haus ist ein Wrack«, warnte Mom und schloss die Tür. »Alles ist uralt und fällt auseinander. Es gibt keinen Fernseher, kein Internet, und es grenzt schon an ein Wunder, dass wir überhaupt Handyempfang haben.« Als sie meinen Seesack auf einen Stuhl mit klauenförmigen Beinen legte, setzte sie eine missbilligende Miene auf. »Ein Geschenk!«
Normalerweise teilte ich Moms Vorliebe für elegantes, modernes Design – unsere Wohnung in Riverdale war mit viel Glas und stahlgrauen Möbeln eingerichtet –, doch die dunkle Holzvertäfelung in der Vorhalle und die zerfransten Spitzenvorhänge an den Fenstern sahen irgendwie sehr hübsch aus. Goldgerahmte Meerlandschaften hingen an einer Wand, eine andere war mit einer abblätternden blauen Tapete bedeckt, die mit winzigen Seepferdchen gemustert war. Jeder Winkel des Hauses schien Geschichte zu verströmen, von der gewundenen Holztreppe bis hin zu dem kristallenen Kronleuchter.
Es erinnerte mich daran, wie ich mich oft fühlte, wenn ich meine High School betrat. Über dem Eingang hing eine riesige farbige Wandmalerei, auf der die Wissenschaftler der verschiedenen Jahrhunderte abgebildet waren: Galileo, Kopernikus, Marie Curie.
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