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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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gehabt. Außerdem, der alte Mann hat nichts. Er schläft im Stall mit seinen Tieren.
     Doch dann erfuhr er, daß seine Frau und drei seiner fünf Kinder überlebt hatten. Im D.-P.-Lager bekamen sie noch ein Kind. Die Eile, sich in diesem Lager zu reproduzieren, war auffallend. Ich verstand es, aber ich kannte auch die Tatsachen des Lebens. Ich würde beim amerikanischen Konsulat in Rotterdam nicht den Fehler meines Vaters wiederholen. Ein junger, gesunder Mann ohne Anhang hatte die besten Aussichten, ein Visum zu bekommen. Hatte man dazu eine Frau, sank man sofort um ein paar Stufen. Hatte man dann noch vier Kinder, konnte man die Hoffnung fahrenlassen. Aber der Pole war Maschinenarbeiter, er hatte sich qualifiziert, trotz Frau und vier Kindern. Er schaffte es, seine ganze Familie bis zur medizinischen Prüfung zu bringen. Da konnte man nicht mehr tricksen. Und bei der medizinischen Prüfung war es auch, wo man die Flecken auf der Lunge seiner Frau fand. Ich konnte nicht begreifen, warum sie so überrascht waren. Das eigentlich Erstaunliche war doch, daß nicht jeder im Lager Flecken auf der Lunge oder Tuberkulose oder ein Dutzend anderer Krankheiten und Gebrechen hatte. Mein Körper verheimlichte die Erinnerung an jene Jahre, während der ich wie ein unerwünschtes Andenken auf einem Dachboden eingesperrt war und von verfaulten Kartoffeln und schimmeligen Bohnen lebte, obwohl meine Situation mir damals gar nicht so bewußt war. Aber die Frau des Polen hatte Flecken auf der Lunge. Sie sagte zu ihm, er solle ohne sie fahren. Wenn die Flecken verschwunden wären, würde sie ihm mit den Kindern folgen. Er sagte, kommt nicht in die Tüte. Er hatte seinen amerikanischen Slang seit Monaten perfektioniert. Kommt nicht in die Tüte, sagte er, sie würden als Familie gehen oder überhaupt nicht. Überhaupt nicht, darauf lief es hinaus. Während sie darauf warteten, daß die Flecken verschwanden, lösten die Behörden das Lager auf und repatriierten alle Insassen. Und dann ließ Onkel Joe Stalin seinen Vorhang fallen, und nun steckt der Pole mit seiner Frau und vier Kindern in einem kommunistischen Loch, falls sie überhaupt noch am Leben sind. Sehen Sie, Dr. Gabor, es hatte Vorteile, niemanden zu haben, obwohl es sich nicht gehört, so etwas zu sagen.
     »Was war hier in diesem Land? Hatten Sie irgendwelche Verwandten, als Sie ankamen?«
     Er hatte die Bürgschaftspapiere unterschrieben und das Geld für die Überfahrt geschickt, aber er hatte nicht gefragt, wann ich ankam, und ich hatte ihm nicht geschrieben, um es ihm mitzuteilen. Ich konnte mich an den Bruder meines Vaters kaum erinnern, den Bruder, der in der Liste des amerikanischen Konsulats in Rotterdam höher gestanden hatte. Onkel war ein weiteres Wort ohne Bedeutung.
     Ich schüttelte den Kopf.
     »Es muß schwierig gewesen sein.« Er wiederholte die Formulierung, die für eine Welt außerhalb seiner Vorstellungskraft so nützlich war, doch diesmal irrte er sich. Vor Amerika war es schwierig, wenn man es beschönigend ausdrücken will. Amerika war tatsächlich ein Zuckerschlecken.
     »Ich war glücklich, hier zu sein.«
     »Erzählen Sie mir davon.«
     Womit soll ich anfangen, Doktor? Mit jenem ersten Morgen auf dem Pier? Ich glaube nicht. Noch nicht einmal meiner Frau habe ich davon erzählt. Oder sollte ich versuchen, das unwahrscheinliche Eins-zu-einer-Million-Zusammentreffen danach zu beschreiben, als ich dachte, das Spiel sei vorbei, noch bevor es begonnen hatte?
     »Amsterdam«, sagte der Mann vor dem Pier, als er den Aufkleber auf meinem Koffer sah. »Vielleicht kannten Sie meinen Vater?«
     Wir waren nun amerikanische Bürger, frei, dahin zu gehen, wohin wir wollten, aber wir hingen noch immer zusammen, aus Furcht oder aus Gewohnheit oder Argwohn. Zumindest sie taten es. Ich beeilte mich wegzukommen. Aber er hatte sich vor mich hingestellt, dieses Überbleibsel meiner Vergangenheit, obwohl ich das in dem Moment nicht wußte. Ich hatte von ihm gehört, aber wir hatten uns nie getroffen, und dort auf dem Pier, von Angesicht zu Angesicht, hielt ich ihn einfach für einen weiteren Flüchtling. Überall in Europa stolperten Menschen zwischen Stacheldraht hindurch, durch ganze Länder, zurück in zerbombte Viertel, und immer und immer wieder fragten sie: Du warst doch in diesem oder jenem Lager, hast du diesen oder jenen kennengelernt? Weißt du etwas von ihm? Gibt es irgendwelche Nachrichten über ihn? Sie studierten die Listen des Roten Kreuzes und

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