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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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für solche Zwecke verwendete!
     Und nun war er einer von ihnen. Er war an diesem Morgen über die Gangway zum Pier gekommen, ein Neueinwanderer, ein Greenhorn, eine Displaced Person. Eine Stunde später hatte er die Zollhalle als hundertprozentiger Amerikaner verlassen. Und er hatte noch nicht einmal lügen müssen. Alles, was er zu tun gehabt hatte, war, ruhig zu bleiben. Er hatte fast fünfundzwanzig Monate, siebenhundertunddreiundfünfzig Tage, um genau zu sein, ruhig bleiben müssen.
      Pst. Sag nichts. Bewege dich nicht. Es könnte uns jemand hören.

    ERSTES BUCH

    1952

EINS

        Es ist zu allen Zeiten gefordert, leise zu sprechen. Erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch.

    Anne Frank, Tagebuch, 17. November 1942

    Der Name des Arztes war Gabor. Wie diese ungarischen Schwestern mit all ihren Juwelen und ihren Ehemännern, sagte ich zu meiner Frau. Zsa Zsa, Eva, und wie die dritte heißt, vergesse ich immer. Ich versuchte, einen Witz daraus zu machen. Ich versuchte, kein Spielverderber zu sein. Sie werden nirgendwo hinkommen, wenn Sie so empfindlich sind, hatte man mich gewarnt, obwohl das nun schon Jahre her war.
     Ich war nicht kampflustig. Ich hätte nicht entgegenkommender sein können, als Dr. Gabor mir die Tür zwischen dem Wartezimmer und dem Sprechzimmer aufhielt. Mit einem Nicken seines kleinen, mit ölig glänzenden schwarzen Haaren bedeckten Kopfs forderte er mich auf, an ihm vorbeizugehen. Ich betrat das Zimmer.
     Die Jalousien waren gegen den sonnenglühenden Nachmittag dicht geschlossen. Schatten verschluckten die Ecken des Raums. Unter dem Fenster murmelte eine Klimaanlage unbestimmte Drohungen. An einer Wand duckte sich ein schwarzes Ledersofa. Ich umrundete es in einem weiten Bogen und nahm auf dem Stuhl diesseits des Schreibtischs Platz. Dr. Gabor trat hinter den Tisch und setzte sich in den mächtigen Stuhl mir gegenüber. Er war kein großer Mann, einen Kopf kleiner als ich und dreißig Pfund leichter, schätzte ich. Ich stellte mir vor, daß seine Füße unter dem Tisch etliche Zentimeter über dem Boden baumelten, munter und hilflos. Ich könnte ihn leicht überwältigen.
     Er griff nach einem gelben Block und zog einen der Stifte, die in einer etruskischen Vase steckten, heraus. Der Tisch war überladen wie ein Pfandhaus mit dem Werkzeug seines Berufs: das Papier und den Stift, die er zur Hand genommen hatte, ein Telefon, ein halbes Dutzend Bücher mit den Buchrücken zu ihm, eine Uhr, ebenfalls mit dem Zifferblatt zu ihm. Dann gab es noch einige Kuriositäten, aber vielleicht gehörten sie auch zum Gewerbe: eine Reproduktion von Rodins Bürger von Calais – seltsam, daß er sich angesichts seines Berufs nicht für den Kuß entschieden hatte –, einige präkolumbianische Köpfe mit ausgehöhlten Augen und aufgerissenen Mündern, zwei afrikanische Statuen, eine mit einem vorgewölbten Bauch und hängenden Brüsten wie Auberginen, die andere mit einem Penis wie ein Maschinengewehr. Dr. Gabor hatte die Figur gegen mich gerichtet. Ich wollte ihm sagen, daß dies nicht das Problem sei; es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich Angst, es könnte es werden, aber jetzt nicht mehr.
     Er lehnte sich im Stuhl zurück und schaute mich durch seine Drahtgestellbrille an. Er hatte den weiten, hohlen Blick einer Eule. Er war nicht beruhigend. Die anderen Ärzte hatten mir gesagt, er sei meine letzte Hoffnung, dieser ungarische Herr in seinem taillierten Zweireiher, der nach langen Nachmittagen in Boulevard-Cafés und trägen Stunden mit jenen blonden Damen aussah, die seinen Namen trugen. Der Anzug konnte kein Zufall sein. Kleidung ist die einfachste Tarnung. Ich hatte mich wie ein Amerikaner oder wenigstens wie ein G. I. angezogen, bevor ich an jenem Morgen im August die Gangway hinuntergegangen war. Vielleicht war das der Punkt. Dr. Gabor, der länger hier war als ich, seit einigen Jahren vor dem Krieg, wie den gerahmten Zeugnissen an der Wand zu entnehmen war, zeigte seine Verbindung zur Alten Welt, aber vielleicht widerstand er auch nur den Vulgaritäten der Neuen. Ich war sicher, daß er sie als Vulgaritäten ansah.
     »So, Herr van Pels«, sagte er und wippte ein bißchen in seinem großen Lederstuhl, »Sie haben also Ihre Stimme verloren.«
     Ihr habt eure Handschuhe verloren, ihr unartigen Kätzchen, liest meine Frau unserer Tochter vor.
     Ich nickte, obwohl ich damals noch flüstern konnte. Drei Wochen später konnte ich nicht einmal mehr das. Ich war in der Lage,

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