Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
Monsieur Tomme?«
»Der junge Mann bei uns – er hat gerade Liebeskummer, wegen seiner amerikanischen Freundin. Er war mit ein paar anderen jungen Amerikanern in Frankreich unterwegs, und jetzt will er ein paar Tage bei uns bleiben und seine Ruhe haben, denke ich. Am besten erzählen Sie niemandem im Dorf, daß Billy hier wohnt. Sehen Sie, er will nicht, daß seine Freunde hier aufkreuzen.«
»Ach…« Madame Annette verstand: Herzenssachen sind etwas Privates, Dramatisches, Verletzendes, las er in ihrem Gesicht, besonders bei einem so jungen Mann.
»Sie haben seinen Namen nirgendwo erwähnt, oder?« Madame Annette ging oft zu Georges, setzte sich an einen der kleinen Tische und trank einen Tee. Wie andere Haushälterinnen auch.
»Bestimmt nicht, Monsieur.«
»Gut.« Tom ging zurück in den Garten.
Kurz vor Mittag wurde Henri, der ohnehin nicht gerade schnell arbeitete, noch langsamer und bemerkte, es sei warm. Das war es nicht, aber Tom hatte nichts dagegen, mit dem Jäten aufzuhören. Sie gingen ins Gewächshaus, wo Tom in einem quadratischen Zementschacht, der zur Bodenentwässerung diente, stets mindestens ein Sechserpack Heineken in Reserve hielt. Tom holte zwei Flaschen hervor und nahm einen rostigen Öffner zur Hand.
Die nächsten Minuten dämmerte Tom halb vor sich hin; er dachte an den Jungen, fragte sich, wo er wohl sei, während Henri pausenlos vor sich hin brummelte, wie mager die Himbeerernte diesen Sommer ausfallen werde, mit der kleinen Bierflasche in der Hand umherstapfte und tief gebeugt die eine oder andere Pflanze auf Toms Regalen beäugte. Henri trug alte, wadenhohe Schnürstiefel mit dicken, weichen Sohlen, die bequem waren, aber nicht gerade modisch. Er hatte die größten Füße, die Tom je gesehen hatte. Ob sie auch groß genug waren für diese Stiefel? Nicht ausgeschlossen, nach seinen Händen zu urteilen.
»Non, trente«, sagte Henri. »Wissen Sie noch, letztes Mal? Da waren es fünfzehn zu wenig.«
Nicht daß Tom wüßte, doch er gab Henri die dreißig Franc, statt sich zu streiten.
Henri ging mit dem Versprechen, am nächsten Dienstag oder Donnerstag wiederzukommen. Tom war es gleich. Henri war en repos, vorzeitig pensioniert seit einem Arbeitsunfall vor etlichen Jahren, und führte in Toms Augen ein leichtes, sorgenfreies, in mancher Hinsicht beneidenswertes Leben. Er sah zu, wie der große Mann davonschlurfte und hinter dem beigen Eckturm von Belle Ombre verschwand, dann ging er sich die Hände über der Gewächshausspüle waschen.
Kurz darauf betrat Tom das Haus von vorne. Von der Stereoanlage im Wohnzimmer ertönte ein Brahms-Quartett, vielleicht war Héloïse dort. Tom ging nach oben, um den Jungen zu suchen. Die Zimmertür war geschlossen. Er klopfte.
»Herein?« In dem fragenden Ton, den Tom schon von ihm kannte.
Er ging hinein: Frank hatte den Koffer gepackt, das Bett abgezogen und die Laken ordentlich zusammengefaltet. Außerdem trug er kein Arbeitszeug mehr. Tom sah auch, daß der Junge, obwohl er sich gerade hielt, dem Zusammenbruch nahe war, mindestens aber den Tränen. »Na, na«, sagte Tom leise und schloß die Tür, »was ist los? Hast du Angst? Ist es Henri?« Das war es nicht, das wußte er, doch er mußte den Jungen zum Reden bringen. Die Zeitung steckte noch immer in der Gesäßtasche seiner Hose.
»Wenn nicht Henri, dann wer anders«, sagte Frank mit zittriger, doch recht tiefer Stimme.
»Also, was ist denn bislang so schlecht gelaufen?« Johnny war unterwegs, er brachte einen Privatdetektiv mit, das Spiel konnte bald aus sein. Aber welches Spiel, fragte er sich. »Warum willst du nicht zurück nach Hause?«
»Ich habe meinen Vater umgebracht«, flüsterte Frank. »Ja, ich habe ihn von dieser…« Der Junge brach ab; sein Mund schrumpelte wie der eines alten Mannes, und er senkte den Kopf.
Ein Mörder, dachte Tom. Aber warum? Ein so sanfter Mörder war ihm noch nie begegnet. »Weiß Johnny davon?«
Frank schüttelte den Kopf. »Nein. Keiner hat mich gesehen.« Keine Tränen fielen, es waren nicht genug, doch sie glitzerten in seinen braunen Augen.
Allmählich verstand Tom: Sein Gewissen hatte den Jungen fortgetrieben. Oder ein Wort von irgendwem. »Hat jemand was gesagt? Deine Mutter etwa?«
»Sie nicht. Susie – die Haushälterin. Aber sie kann mich nicht gesehen haben. Sie war im Haus. Außerdem ist sie kurzsichtig, und die Klippe ist vom Haus sowieso nicht zu sehen.«
»Zu wem hat sie etwas gesagt? Zu dir oder zu anderen?«
»Sowohl als auch.
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