Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
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Draußen goss es in Strömen. Der Regen trommelte auf Dach und Wände des blauen Plastikzelts der Spurensicherung, füllte den engen Raum mit seinem Getöse aus, wetteiferte mit dem konstanten Brummen der tragbaren Generatoren und machte jede Unterhaltung unmöglich. Nicht, dass irgendwem nach einem lockeren Plausch zumute gewesen wäre, um Viertel nach zwölf in der Nacht von Sonntag auf Montag.
Nicht, solange David Reid da vor ihnen lag, auf der feuchtkalten Erde.
Am einen Ende des windschiefen Zelts war der Straßengraben auf einer Länge von etwa anderthalb Meter mit blauem Polizeiband abgesperrt. Dunkles, öliges Wasser glitzerte im Scheinwerferlicht. Der Rest des Zeltes deckte ein Stück Flussufer ab, bewachsen mit wintergelbem Gras, das von vielen Sohlen zertrampelt und in die matschige Erde gedrückt war.
Es herrschte drangvolle Enge. Allein vier Beamte von der Aberdeener Spurensicherung wuselten umher, gehüllt in weiße Schutzanzüge. Zwei stellten mit Pulver und Klebeband Fingerabdrücke sicher, während ein dritter Fotos schoss und der vierte alles für die Nachwelt auf Video bannte. Dazu kamen ein Streifenbeamter mit grünlich verfärbtem Gesicht, der Bereitschaftsarzt, ein Detective Sergeant, der schon bessere Zeiten gesehen hatte – und schließlich der Ehrengast: der kleine David Brookline Reid. In drei Monaten hätte er seinen vierten Geburtstag feiern sollen.
Sie hatten ihn aus dem kalten Wasser des Grabens ziehen müssen, ehe sie ihn offiziell für tot erklären konnten. Nicht, dass es daran irgendeinen Zweifel gegeben hätte. Der arme kleine Kerl weilte schon ziemlich lange nicht mehr unter den Lebenden. Er lag auf dem Rücken auf einer quadratischen blauen Plastikplane, allen Blicken schutzlos ausgesetzt. Außer einem X-Men-T-Shirt, das bis zu den Schultern hochgezogen war, hatte er keinen Faden am Leib.
Wieder blitzte die Kamera auf. Das gleißende Licht verschluckte Details und Farben, brannte ein Nachbild in die Netzhaut ein, das nicht mehr verschwinden wollte.
Detective Sergeant Logan McRae stand in der Ecke, kniff die Augen zusammen und überlegte krampfhaft, was er der Mutter des kleinen David Reid erzählen sollte. Ihr Sohn war seit drei Monaten vermisst worden. Drei Monate der Ungewissheit. Drei Monate, in denen sie immer gehofft hatte, dass ihr Kind gesund und wohlbehalten wieder auftauchen würde. Und dabei hatte es die ganze Zeit tot in einem Graben gelegen.
Logan rieb sich das müde Gesicht und spürte die kratzigen Stoppeln unter seinen Fingern. O Mann, er hätte morden können für eine Zigarette. Dabei sollte er eigentlich gar nicht hier sein!
Er zog seine Uhr aus der Tasche, und sein Atem bildete ein weißes Nebelwölkchen, als er verzweifelt aufstöhnte. Vierzehn Stunden, seit er sich am Sonntagmorgen zum Dienst gemeldet hatte. Genau so hatte er sich das vorgestellt mit dem »allmählichen Wiedereingewöhnen«.
Ein eisiger Windstoß peitschte durch das Zelt. Logan blickte auf und sah eine klatschnasse Gestalt aus dem strömenden Regen hereinschlüpfen. Die Pathologin war gekommen.
Dr. Isobel MacAlister: dreiunddreißig, kurz geschnittenes braunes Haar, eins dreiundsechzig. Macht leise miauende Geräusche, wenn man sie in die Innenseite der Oberschenkel beißt. Sie war tadellos gekleidet – maßgeschneiderter grauer Hosenanzug und schwarzer Mantel. Nur die riesigen, weiten Gummistiefel, die ihr um die Knie schlackerten, verdarben den Gesamteindruck ein wenig.
Mit der kühlen Distanz des Profis sah sie sich in dem überfüllten Zelt um und erstarrte, als ihr Blick an Logan hängen blieb. Ein unsicheres Lächeln blitzte auf und verschwand gleich wieder. Kein Wunder bei dem Bild, das er abgeben musste. Unrasiert, dunkle Ringe unter den verquollenen Augen, das dunkelbraune Haar wirr und zerzaust, vom Regen gekräuselt.
Isobel machte den Mund auf und wieder zu.
Der Regen hämmerte auf das Zeltdach, die Kamera klackte und sirrte, wenn der Blitz sich wieder auflud, die Generatoren brummten. Aber das Schweigen war ohrenbetäubend.
Der Bereitschaftsarzt brach schließlich den Bann. »Pfui Teufel!« Er balancierte auf einem Bein, während er das Wasser aus seinem Schuh kippte.
Isobel setzte wieder ihre professionelle Miene auf.
»Ist der Tod bereits festgestellt worden?«, fragte sie. Sie musste schreien, um sich bei dem Lärm verständlich zu machen.
Logan seufzte. Der Moment war vorüber.
Der Bereitschaftsarzt unterdrückte ein Gähnen und deutete auf den kleinen,
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