Horror Factory - Das Grab: Bedenke, dass du sterben musst! (German Edition)
Prolog
Sam Tyler lächelt. Ich observiere ihn seit Tagen, und wann immer ich ihn zu Gesicht bekomme, lächelt er. Er meint, Grund dazu zu haben, doch er irrt. Er meint, ein Glückspilz zu sein. Auch das ist falsch.
Ich habe lange genug gewartet, lange genug beobachtet. Geschmeidig setze ich mich in Bewegung. Ich kenne meinen Auftrag und weiß, dass ich keine andere Wahl habe, als ihn auszuführen. Ich habe eine Bestimmung. Ich bin ein Reisender geworden, der die Dinge in Ordnung bringt.
Sam Tyler weiß und ahnt davon nichts. Vorhin ist er aus dem Bus gestiegen und aktentaschenschwingend heimgekommen. Es geht ihm gut. Seit er gestorben ist, so scheint es, weiß er das Leben erst richtig zu schätzen.
Nun brennt Licht hinter den Fenstern im Erdgeschoss des schmucken Reihenhäuschens. Sam Tyler ist durch und durch solide. Single, aber dem weiblichen Geschlecht nicht abgeneigt. Momentan wohnt er ganz allein in seinem Heim, das Gemütlichkeit ausstrahlt, soweit ich es von der Straße aus erkennen kann.
Ich gleite den Bürgersteig entlang. Meine Füße berühren den Boden mit einer Leichtigkeit, als wäre die Schwerkraft für mich reduziert. Aber das täuscht. Ich wiege wahrscheinlich noch genauso viel wie vor hundert Jahren, auch wenn ich das nie überprüft habe.
Auch in den Nachbarhäusern brennt Licht, das sich mit dem der Straßenlaternen vermischt. Eine trübe Melange aus Helligkeit lässt mich allenfalls als dunklen Schemen erkennen, sollte zufällig jemand aus dem Fenster und in meine Richtung schauen.
Ich bin ein Schatten unter Schatten.
Das Gartentürchen quietscht leise, als es vor mir zurückschwingt. Kies knirscht unter meinen Schuhen. Ich gehe zügig auf die grün lackierte Tür zu. Statt auf die elektrische Klingel zu drücken, benutze ich den altmodischen Klopfer.
In Kopfhöhe der Tür befindet sich eine kleine Luke, deren Riegel jetzt zurückgeschoben wird.
Sam Tylers Gesicht erscheint in der Öffnung.
Sam Tyler lächelt. »Ja?«, fragt er freundlich. »Bitte? Was kann ich für Sie tun?«
»Sterben«, sage ich. »Endlich sterben.«
Meine Hand schießt vor.
1
England, 1878
»Das darfst du nicht! Versündige dich nicht!«
Ich schaue in das zerfurchte Gesicht, das mir wie ein Spiegel ist. Aber der Gram darin ist nicht das, was in mir zehrt und zerrt, sie kann nur ein Abklatsch jenes Fegefeuers sein, in dem ich brenne, brenne, brenne!
Mein Schmerz wird niemals enden und auch nicht meine unstillbare Wut.
»Und wenn ich es mit meinen eigenen Händen hineinmeißeln muss – es ist beschlossen! Geh jetzt, bitte geh. Wenn du der Freund bist, als den ich dich immer sah, lass mich jetzt allein. Ich ersticke sonst. Die letzten Tage waren …«
Edmond sieht mich an, wie nur er mich anzusehen vermag. Wir kennen uns seit frühen Kindheitstagen. Unsere Freundschaft ist so groß und echt, wie man es sich besser nicht wünschen kann. Zu besseren Zeiten verglich ich sie oft mit einem exzellenten Sherry, der umso besser mundet, je länger man ihm Zeit gibt, sich zu entwickeln. Aber auch Freundschaft muss atmen, wie der gute Whisky im Eichenfass, um die rechte Reife nicht nur zu erlangen, sondern auch zu wahren.
Ich hoffe inständig, dass Edmond mich versteht, und warte auf ein Zeichen in seinen eisgrauen Augen, die ihn stets besonnener wirken lassen als mich.
Als er nickt, fühle ich mich für einen Moment wie befreit – aber so wonnevoll wie vor Liz’ Tod atmen, durchatmen, werde ich nie mehr können.
»Ich hänge an dir wie eine Klette, Freund, verzeih, wenn ich dich damit erdrücke. Mir war es gar nicht bewusst. Aber ich verstehe, dass du umso mehr an sie denken musst, je mehr ich da bin und dich mit meiner eigenen Trauer und Traurigkeit an sie gemahne. Ich gehe heim, du sollst ein wenig Ruhe finden, vielleicht auch Abstand. Ich wünsche es dir. Ich wünsche es uns allen. Wenngleich ich weiß, dass die Wunde noch zu frisch ist, um jetzt schon heilen zu können.« Er seufzt, tritt dicht vor mich und legt seine Hände auf meine Schultern; sie sind kalt, fast so kalt wie …
Ich zucke zusammen. Er drückt einmal fest zu, dann löst er die Finger und tritt zurück. »Wann darf ich dich wieder besuchen, ohne dass ich dir damit mehr zufüge als wohltue?«
»Rede nicht so. Du bist mir lieb und teuer, und wenn ich dich nicht hätte, ich wüsste nicht mehr … nicht mehr ein noch aus.« Meine Stimme, ohnehin fast tonlos, scheint wie Wasser in einem Schwamm zu versickern. Am Ende mag sie kaum noch zu
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