Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
die Schultern, als wolle er jemanden schlagen, starrte dann aber nur leer vor sich hin. »Sein Markt war die ganze Welt. Jeder. Jedenfalls jeder, der es sich leisten konnte. Viel von dem Zeug, das er verkaufte, waren Delikatessen, reiner Luxus. ›Mehr als die Hälfte Amerikas ist zu dick‹, sagte er immer.«
Langsam schlenderten sie zurück durch einen Raum, wo sie schon gewesen waren. Links lief eine von drei, vier kleinen Filmvorführungen; eine Handvoll Leute sah zu, einige saßen, andere standen. Auf der Leinwand russische Panzer, die Hitlers Soldaten angriffen.
»Wie ich Ihnen schon sagte«, fuhr Frank fort, »gab es neben dem normalen Zeug und den Delikatessen das gleiche auch kalorienarm. Wie heißt es über Glücksspiel und Prostitution: Geld verdienen mit anderer Leute Lastern. Erst macht man die Leute dick, dann wieder dünn, und danach geht das Ganze von vorne los.«
Tom lächelte über die starken Gefühle des Jungen. Welche Bitterkeit! Versuchte er, seinen Vatermord zu rechtfertigen? Als schieße Dampf aus einem Kessel, wenn der Druck den Deckel hob, so kam es Tom vor. Wie wollte der Junge sie jemals bekommen, die große Rechtfertigung, die ihm all seine Schuld nehmen könnte? Eine so vollkommene Rechtfertigung würde er wohl niemals erlangen, aber eine innere Einstellung mußte er finden. Tom glaubte, daß man jedem Fehler im Leben mit einer Einstellung begegnen mußte, mit der richtigen oder der falschen, einer ichstärkenden oder einer selbstzerstörerischen Haltung. Was für den einen Menschen eine Tragödie war, mochte für den anderen keine sein, wenn er die richtige Einstellung dazu finden konnte. Frank fühlte sich schuldig, deshalb hatte er ihn aufgesucht, und seltsam: Er, Tom Ripley, hatte noch nie so schwere Schuld empfunden oder doch nie ernsthaft darunter gelitten. Insofern war er anders als andere, das war ihm klar. Die meisten würden nicht schlafen können, würden schlecht träumen, vor allem nach einer Tat wie dem Mord an Dickie Greenleaf. Er aber nicht.
Plötzlich ballte der Junge die Fäuste, doch er hatte nichts gesehen. Die Geste war nur ein Reflex seiner eigenen Gedanken.
Tom nahm ihn am Arm. »Hast du genug? Gehen wir, hier entlang.« Er steuerte den Jungen durch einen Raum, der zum Ausgang führte, wie er vermutete, dann durch noch einen, wo es Tom vorkam, als marschiere er an einer Reihe Soldaten vorbei – als wären die Bilder eine Armee von Kriegern in unterschiedlichen Uniformen, bis an die Zähne bewaffnet, auch wenn einige Frack oder Smoking trugen. Seltsamerweise fühlte er sich besiegt, und das gefiel ihm gar nicht. Weswegen? Nicht wegen der Bilder, da war er sicher. Er würde den Jungen wegschicken müssen. Die Lage wurde zu heiß, zu gefühlsgeladen. Oder Schlimmeres.
Auf einmal mußte er lachen.
»Was ist?« fragte Frank, wie immer aufmerksam, was Tom anging, und schaute sich um, als gebe es etwas Komisches zu sehen.
»Egal«, sagte Tom. »Ich denke immer verrückte Dinge.« Und zwar das: Falls der Detektiv und der Bruder ihn mit Frank sähen, könnten sie wegen seines schlechten Rufs zuerst auf den Gedanken kommen, er habe den Jungen entführt. Das könnte auch später passieren, dachte er weiter, sollte nämlich der Detektiv auf den Gedanken verfallen, seine Adresse herauszubekommen, und erfahren, daß ein Junge einige Zeit im Haus der Ripleys gewohnt hatte. Andererseits, wer in Villeperce wußte das schon, außer Madame Annette? Überdies hatte Tom kein Lösegeld gefordert.
Sie nahmen ein Taxi zum Parkhaus und kehrten kurz nach sechs nach Belle Ombre zurück. Héloïse war oben, sie wusch sich die Haare, was mit Trocknen unter dem Fön noch zwanzig Minuten dauern dürfte. Um so besser, denn Tom wollte mit Frank einen weiteren Anlauf wagen. Der Junge hatte sich mit einer französischen Zeitschrift ins Wohnzimmer gesetzt.
»Warum rufst du nicht Teresa an und sagst ihr, daß es dir gutgeht?« fragte Tom. Er klang gut gelaunt. »Du mußt ihr ja nicht genau sagen, wo du bist. Daß es Frankreich ist, weiß sie sicher sowieso.«
Bei ihrem Namen setzte sich der Junge auf. »Ich glaube, Sie wollen, daß – ich verschwinde. Verstehe.« Er stand auf.
»Du kannst in Europa bleiben, wenn du willst. Das ist deine Sache. Aber meinst du nicht, du wirst glücklicher sein, wenn du mit Teresa sprichst und ihr sagst, daß alles in Ordnung ist? Denkst du nicht, sie macht sich Sorgen?«
»Kann sein. Hoffentlich.«
»In New York ist jetzt Mittag. Sie ist in New York,
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