Hoppe
1. Die kanadischen Jahre
W eltweit, egal welcher Zeitung, hat Hoppe immer dieselbe Geschichte erzählt: wie sie als Ratte mit Schnurrbart und Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in der Rechten, den Marktplatz ihrer Heimatstadt Hameln betritt, um sich im Freilichttheater unter der Führung des Rattenfängers vor Touristen aus aller Welt ein Taschengeld zu verdienen. Wie sie das eben Verdiente sofort auf den Kopf haut, Blumen für ihre Mutter (»die Gastgeberkönigin«) und ein Päckchen Zigaretten für ihren Vater (»den Erbauer des ersten Kaspertheaters«) kauft, um danach mit dem verbliebenen Rest ihre vier Geschwister zu einem Ausflug ins
Miramare
zu überreden, eine Hamelner Eisdiele, »die sommers floriert und sich winters, wenn sich die Italiener saisonbedingt nach Süden verziehen, in einen Ausstellungsraum für Pelze verwandelt.« Bis Hoppe sich dreißig Jahre später »endlich erhebt«, um ein Schiff von Hamburg nach Hamburg zu besteigen und die Welt mit eigenen Augen zu sehen: »Ein Ausflug, nichts weiter, in ein paar Tagen bin ich zurück, sitze wieder am Tisch, der zweite Esser von rechts.« (
Pigafetta,
1999 )
Sowenig beglaubigt ist, dass Hoppe jene vielzitierte Reise um die Welt auf einem Containerfrachtschiff tatsächlich persönlich unternahm, ist bekannt, dass sie bereits als Kind mehrfach die Weltmeere befuhr. Allerdings nicht als zweiter Esser von rechts, sondern als einzige Tochter eines Patentagenten, der das deutsche Kaspertheater vermutlich niemals von innen sah. Die Hamelner Kindheit ist reine Erfindung. Das Tagebuch des einzigen Vaters seines einzigen Kindes, akribische Auflistung äußerer Ereignisse unter entschiedener Weglassung der inneren, gibt Aufschluss über Arbeitsaufenthalte auf höchst unterschiedlichen Kontinenten. Dass die Tochter (Felicitas) dabei fast zwanzig Jahre lang mit von der Partie war, findet in seinen Aufzeichnungen vor allem dann Erwähnung, wenn es um Ausgaben geht, angefangen bei unnötigen Extras im Reiseproviant (»Nüsse und Schokolade«) über kindgerechte Reiselektüre (»Schiffsbibliotheken sind ein Desaster!«) und die Erfüllung »vollkommen überflüssiger Wünsche« während zu kurzer Landgänge (»Wozu plötzlich ein Fernrohr?«) bis hin zu der Last, nach der Ankunft in wechselnden Wohnungen und Häusern ein Kinderzimmer einzurichten. (»Hausaufgaben kann sie auch am Küchentisch erledigen.«) »Man will hier eine Art Schulgeld«, notiert missmutig der Agent in Übersee oder: »Felicitas braucht einen Ranzen. Optische Täuschung. Schließlich hat sie einen Rucksack, in den praktisch alles hineinpasst.« Und er fährt fort: »Heute Abend wieder ein weinendes Kind. Lästig. Felicitas verweigert den Schulbesuch, man verspottet sie, sagt sie, wegen des Rucksacks. Kinderklage. Ein Lederranzen kommt gar nicht in Frage.« Es folgen Auflistungen alltäglicher Ausgaben für Kleidungsstücke: »Gott sei Dank wächst sie langsam, der Mantel, an den Ärmeln ausgelassen, hält durchaus noch einen zweiten Winter.«
Es ist weder der fehlende Schreibtisch noch die Schokolade, auch nicht das Fernrohr, sondern der Rucksack, der zu Hoppes Erkennungsmerkmal werden wird, zu ihrer höchst persönlichen Rüstung. Bis zum Schluss ihrer Laufbahn (in rund vierzig Jahren weit über fünftausend Auftritte in über zweihundert Ländern in unterschiedlichen Kostümen und Rollen) ist kein einziger Auftritt ohne Rucksack vermerkt. Bis heute unvergessen ein frühes Eishockeyturnier in Edmonton, von dessen Teilnahme die damals zwölfjährige und überaus hoffnungsvolle Hoppe (»Superpuck«) ausgeschlossen wird, als sie sich beim entscheidenden Endspiel so unvermutet wie beharrlich weigert, auf dem Eis ihren Rucksack abzulegen. Sieben Jahre später die Verweigerung der Aufnahme in die Dirigentenklasse eines Konservatoriums in Adelaide: »Man dirigiert bei uns immer noch mit den Armen, nicht mit dem Rücken«, so die Begründung des Vorsitzenden der Auswahlkommission Melville Drugs, dem gegenüber Hoppe behauptet haben soll, sie brauche den Rucksack als Gegengewicht, da sie sonst von der Musik »weggetragen« werde. Und, last but not least, zwei Jahrzehnte später, Hoppes legendärer Auftritt auf einem Podium in Tokio, als sie aus dem Stegreif einen knapp zweistündigen Vortrag zum Thema
Rucksack, Buckel, Fetisch
hält. Die Presse spekuliert über den Inhalt des mittlerweile angewachsenen Gepäckstücks: »Reine Leere. Verbergungsstrategien. Warum macht sie nicht einfach den
Weitere Kostenlose Bücher