Der kalte Kuss des Todes
vorgestern gekommen.«
»Wo hat er sich nach seiner Flucht versteckt?«
»Er hat viele Verstecke. Überhaupt gibt es viele von ihnen.«
»Von ihnen? Was meinst du damit? Seine Schüler oder. . .« Katja stockte. »Oder solche . . . solche Werwölfe?«
»Alle. Es gibt viele von ihnen. Er wird nicht der Letzte sein.«
»Aber wozu habt ihr euch diesen Irrsinn mit der vorgetäuschten Geiselnahme ausgedacht? Jetzt bist du ein Mittäter. Wenn Stepan beim Verhör aussagt, dass ihr euch im Voraus verabredet habt. . .«
»Das wird er nicht. Er hat es mir geschworen.« Iwan schloss die Augen. »Er ist mein Bruder. Seltsam, aber das ist uns erst vorgestern so richtig klar geworden. Und wir haben es getan, weil es so besser ist. Es ist keine Rache. Es ist einfach nur besser so.«
»Was ist besser? Ihr habt euch mit ihm auf eine Stufe gestellt. Und wenn er stirbt, werdet ihr . . .«
»Es ist besser so«, wiederholte Iwan störrisch. »Für alle. Für die Familie, für uns, für unseren Namen. Von Anfang an war es eine Familienangelegenheit. Niemand sollte sich da einmischen. Wir haben beschlossen, alles selbst zu regeln. So hat mein Bruder Stepan es mir gesagt. Und ich bin seiner Meinung.«
Das Handy klingelte. Kolossow nahm das Gespräch entgegen und lauschte schweigend. Dann hielt er an und drehte sich um.
»Es war das Krankenhaus. Dmitri ist soeben gestorben. Die Ärzte haben getan, was sie konnten, aber er hatte schon zu viel Blut verloren.«
Der Wagen fuhr wieder an. Im Rückspiegel sah Kolossow Iwans Gesicht. Er weinte. Dann wischte er sich jäh die Tränen ab.
»Es ist egal«, sagte er störrisch. »So ist es sogar noch besser.«
Sie fuhren noch ungefähr zweihundert Meter, vorbei an der Abfahrt zur Zigeunersiedlung und an der Schlucht, in der noch immer der Kadaver des getöteten Hundes verfaulte, stinkend und die Luft verpestend. Zu beiden Seiten der Straße war nun wieder Wald zu sehen: Tannen, Kiefern, ein dicker Teppich von Tannennadeln aus dem Vorjahr, der jeden Schritt dämpfte. Es begann zu regnen.
»Halten Sie an«, bat Iwan plötzlich.
Kolossow bremste.
»Wir bringen dich nach Moskau. Nach Hause.«
»Nein, nicht nötig. Ich will eine Weile allein sein.« Iwan fasste nach dem Türgriff. »Ich werde nicht weglaufen. Wenn Sie mich sprechen wollen, mich vorladen . . . ich werde kommen. Aber jetzt will ich allein sein.«
Er stieg aus und ging im Regen langsam über die Chaussee zurück. Kolossow fuhr wieder los. Katja blickte sich um. Iwan bog von der Straße in den Wald ein und trat unter die regennassen Gewölbe der dicht stehenden Bäume.
Die Zweige der Tannen schaukelten leicht, sodass sich Regentropfen davon lösten und auf die Erde fielen.
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