Der kalte Kuss des Todes
frischer Tannennadeln und auch jenen unausrottbaren Geruch, der immer noch auf seiner Haut haftete: salzig, herb, unverwechselbar. Und noch etwas anderes – einen scheußlichen Gestank, der aus dem Unterholz von der anderen Seite des von einem Feldweg durchschnittenen Waldes herüberwehte. Von dort, wo vor einer knappen halben Stunde der alte Wolga mit dem stotternden Motor gehalten hatte. Es war der klebrige, Übelkeit erregende Geruch nach faulendem Fleisch. Der Ruf der letzten Beute.
Der Mann krümmte sich und glitt lautlos ins Unterholz, ein grauer Schemen im Frühnebel. Nur die Zweige der Tannen schaukelten leicht, sodass sich Regentropfen davon lösten und auf die Erde fielen.
1 Die liegen gelassene Knarre
Unerwartete Ereignisse pflegen meist im unpassendsten Augenblick über uns hereinzubrechen. Eigentlich war Katja Petrowskaja in einer ganz banalen Dienstsache zum Milizrevier von Rasdolsk gefahren: Sie wollte eine Reportage über einen Einsatz mit dem Decknamen »Merkur« schreiben. In dem ländlichen Moskauer Bezirk gab es ständig Verstöße gegen die Handels – und Verbrauchergesetze. Als Kriminalreporterin beim Pressezentrum der Moskauer Miliz berichtete Katja für den »Moskauer Landboten« regelmäßig über solche Operationen.
Sie saß im Büro des Revierchefs, Oberstleutnant Spizyn, und hatte gerade das Aufnahmegerät eingeschaltet, als wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein Anruf des Diensthabenden kam.
Kaum hatte Katja die lakonische Information »Auftragsmord« gehört, war sie fest entschlossen, diesmal eine der Ersten am Tatort zu sein – koste es, was es wolle – und alles aus erster Hand zu erfahren, selbst wenn der höfliche Oberstleutnant Spizyn es ablehnen sollte, Katja dorthin mitzunehmen. Doch der Chef der Rasdolsker Miliz reagierte auf ihre Bitte ausgesprochen originell: »Sind Sie mit dem Auto hier, Jekaterina Sergejewna?«
»Ja, mit dem Shiguli vom Pressedienst. Unser Kameramann fährt.«
»Dann könnten Sie doch mich und meinen Kollegen dorthin fahren.« Spizyn räusperte sich verlegen. »Wir sind im Moment mit Autos ziemlich knapp. Der Einsatzwagen ist zurzeit unterwegs, und für die Fahrzeuge der Kripo gibt es kein Benzin – zum Teufel mit der verdammten Rationierung! Nehmen Sie mich mit. Dann könnten wir uns auf diese Weise gegenseitig einen Gefallen tun.«
»Selbstverständlich. Wer wurde denn ermordet?« Verstohlen schaltete Katja das Aufnahmegerät in ihrer Handtasche wieder ein.
Als sie den Namen Sladkich hörte, hätte sie vor Überraschung fast einen lauten Pfiff ausgestoßen. Igor Sladkich genoss weit über Moskau hinaus seine sehr fragwürdige Berühmtheit. Was hatte er im Laufe seiner achtunddreißig Lebensjahre nicht schon alles gemacht! Ende der Achtzigerjahre war er Kaderoffizier bei einer Spezialeinheit des KGB gewesen, Anfang der Neunziger Vorsitzender des Rechtsschutzfonds »Schild und Gesetz«, danach Besitzer einer Kette von Wein – und Wodkahandlungen; dann hatte er selbst Wodka produziert und wurde schließlich Abgeordneter der Staatsduma im Block der ökonomisch unabhängigen Kandidaten sowie Gründer und Vorsitzender der republikanischen Partei des freien Unternehmertums.
Bei den letzten Wahlen zur Duma waren Partei und Block von Sladkich mit Pauken und Trompeten durchgefallen: Unter den Kandidaten hatten sich Leute mit krimineller Vergangenheit befunden; als dies an die Presse durchsickerte und öffentlich bekannt wurde, gab es einen Riesenskandal. Außerdem sammelte die Steuerfahndung bereits seit vier Monaten Material über Sladkich, da er im Verdacht der Steuerhinterziehung stand. Die Staatsanwaltschaft interessierte sich ebenfalls lebhaft für ihn – aus einem anderen, noch gewichtigeren Grund: Der Name Sladkich war in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Mordfall aufgetaucht. In Rasdolsk waren zwei Mitglieder der so genannten Michailow-Gruppe, einer organisierten Verbrecherbande, am helllichten Tag vor ihrem Auto erschossen worden.
Sladkich erklärte, eine Gruppe von »Rowdys«, wie er sich im Verhör ausdrückte, habe »einen Anschlag auf seine Ehre und Würde« verübt. Er und sein Bodyguard hätten sich strikt an die Regeln der Notwehr gehalten. Laut Aussage Sladkichs habe der Bodyguard sich im kritischen Augenblick einer der Maschinenpistolen bemächtigt, welche die »Rowdys« bei sich trugen, und »versehentlich« mehrere Schüsse daraus abgefeuert. Die Aussage des Abgeordneten ließ sich schwer überprüfen, da am zweiten Tag nach
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