Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
es eine Kriegsverbrechergeschichte war – jetzt an die Öffentlichkeit, könnten sie den Prozess womöglich noch beeinflussen. Vielleicht brauchte die Anklage weitere Zeugen. Weitere Beweise.
Sie schüttelte den Kopf. »Kroatien ist seit Tuđmans Tod eine Demokratie.«
»Nominell ja.« Irena zuckte die Achseln. Sie versuchte es noch einmal. Im Jahr 2000 war Milan Levar, ein Tribunal-Zeuge, durch eine Bombe getötet worden. Noch 2008 waren unbequeme Journalisten – wie Dušan Miljus – verprügelt oder – wie Ivo Pukanić – ermordet worden. Željko Peratović, der schon in den Neunzigern als einer der Ersten über kroatische Kriegsverbrechen geschrieben hatte, war 2007 willkürlich verhaftet worden und erst auf Anordnung des Staatspräsidenten freigekommen.
»Die Ideologen sind auf dem Rückzug«, sagte Irena. »In ein paar Jahren nimmt keiner mehr Notiz von ihnen, sie fechten ihre letzten Kämpfe aus. Aber das macht sie gefährlich. Ich bitte dich nur, das nicht zu vergessen.« Sie zog das Sprachlehrbuch aus der Tasche. »Wollen wir jetzt?«
»Ich …«
»Heute haben wir eine langweilige Lektion, die leider notwendig ist: Die Liebe. «
Ahrens lachte verdrossen.
Seit sie einander kannten, überlegte Irena, wie sie die Liebe in Ahrens’ Leben zurückbringen konnte. Du brauchst Sex, einen Freund, ein bisschen Aufregung! Na ja, wenigstens Liebe.
Sie hatte ihr einen Cousin, einen Kollegen, einen Nachbarn vorgestellt. Keinem von ihnen hätte Ahrens jemals von dem Wintermorgen vor zwölf Jahren erzählen wollen. Von einem kalkweißen Gesichtchen, kleinen blauen Armen, der grauenhaften Stille.
Das war der Maßstab geworden.
Deine Ansprüche sind zu hoch, das ist das Problem!
Es ist kein Problem, Irena, es ist … eine Garantie.
Ja, auf Masturbation. Hör mal, morgen ist ein Freund von mir in der Stadt, ein Geiger … Kommst du?
Natürlich war sie gekommen. Und hatte dem Geiger zur Begrüßung und zum Abschied freundlich die Hand geschüttelt.
Irena hob das Buch und zeigte auf Abbildungen. »Um Sex geht es auch.«
Ahrens lächelte. »Ich habe am Donnerstag einen Termin im Zagreber Büro des Tribunals.«
»Dann«, erwiderte Irena, »muss ich mich wohl schnell nach deinem Kapetan erkundigen.«
4
MITTWOCH, 13. OKTOBER 2010
BERLIN
Was ein kleines Wort anzurichten vermochte. Löste Gedankenlawinen aus, schlug auf die Laune.
Sonst irgendwelche Anhaltspunkte?
Nein.
Lorenz Adamek war noch nicht dazu gekommen, die Bitte seines Onkels zu erfüllen. Am Dienstag war er von Besprechung zu Besprechung geeilt, der Mittwoch sah nicht anders aus. Vormittags Zeugenvernehmungen und ein Gespräch mit einem Staatsanwalt, mittags das Essen mit den Kollegen von der Bowlingmannschaft, anschließend Rapport bei der Kommissariatsleiterin.
Und immer wieder dachte er an die Lüge Richard Ehringers und ärgerte sich.
Erst am Mittwochnachmittag fand er Zeit, POLIKS den Namen in den digitalen Rachen zu werfen und eine E-Mail-Anfrage an die Rottweiler Kollegen zu schicken.
Als er die Direktion 2 um halb sechs verließ, war er nicht viel klüger.
Thomas Ćavar, 1971 in Rottweil geboren, nie an einem anderen Wohnort gemeldet, nie straffällig geworden, nicht verheiratet, keine Kinder. 1989 hatte er den Führerschein gemacht, 1990 war in Rottweil ein Ford Granada auf seinen Namen zugelassen worden, 1991 hatte er sich bei der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen für Medizin beworben.
Weitere Informationen waren in den Datenbanken, die POLIKS anzapfte, nicht enthalten. Thomas Ćavar hatte vor zwanzig Jahren aufgehört zu existieren.
Was die Anfrage des Onkels noch irritierender machte.
Die Kripo Rottweil – Mit hochachtungsvollem Gruß in die Hauptstadt, Ihre KOK Daniela Schneider – hatte das Rätsel gelöst: Thomas Ćavar war mutmaßlich 1995 in Bosnien ums Leben gekommen.
Mutmaßlich?, hatte Adamek zurückgeschrieben.
Na ja, offiziell sei er nie für tot erklärt worden.
Aber inoffiziell?
Also, man kenne sich in Rottweil. Man höre so einiges. Die Leiche sei wohl in einem serbischen Massengrab verschwunden. Im Übrigen lebten Vater und Bruder des Nachgefragten noch heute im Ort. Falls erwünscht, könne ein Kontakt hergestellt werden.
Hocherfreut, helfen zu können, Ihre Daniela Schneider.
Im kalten Regen eilte Adamek über den Parkplatz, getrieben von unangenehmen Fragen. Warum interessierte sich Richard Ehringer für einen Jungen, der mutmaßlich vor fünfzehn Jahren gestorben war?
Und warum
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