Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
hatte er gelogen?
»Was heißt das, ›mutmaßlich‹ tot?« In der Stimme des Onkels lag Überraschung.
»Dass es nicht bestätigt ist.«
»Wurde seine Leiche denn nie gefunden?«
»Offenbar nicht.«
Aus den Lautsprechern knisterte es, gegen die Windschutzscheibe prasselte der Regen. Vor Adamek tauchte die Nachbarplatte auf, deren oberste Stockwerke in schwarzgrauen Wolken zu verschwinden schienen. Auch der Balkon der Freiheit war nicht zu erkennen. Ein Tag ohne einen einzigen Moment Sonne – der Berliner Winter hatte begonnen.
Genügsame Menschen wie er schlugen den Mantelkragen für sechs Monate hoch und schlüpften in einen warmen Kokon dauerhaft schlechter Laune. In Karolins weniger robusten Kreisen brauchte man spätestens Mitte Februar zwei Wochen Helligkeit und Wärme, sonst hielt man nicht ohne depressive Anfälle durch bis April. Sie scannte bereits das Internet nach Sonderangeboten. Warm & hip lauteten die Kriterien, wobei die Priorität wechseln konnte. Wochenlang würde der Laptop bis morgens um zwei laufen. Am Ende würden sie an einem Ort landen, den Adamek in einem Leben ohne Karolin niemals gesehen hätte.
Capri? Biste jetzt Jetset oder wat, Lorenz?
War ein Sonderangebot.
Der Lorenz is’ jetzt Jetset, jibt’s det.
Der Regen wurde immer stärker. Adamek hielt an einer Ampel, lauschte auf das Geprassel.
Der Onkel brach das Schweigen. »›Mutmaßlich‹ und ›offenbar‹? Ist das alles?«
Und »inoffiziell«, dachte Adamek und fuhr weiter.
»Ich brauche Tatsachen, Lorenz.«
»Warum?«
»Sagte ich das nicht bereits? Ein Bekannter, den ich aus den Augen verloren habe.«
Kein Wunder, wenn er tot war.
Adamek verließ die Leipziger Straße, hielt vor der Garageneinfahrt, wartete. Unter fünfundzwanzig Stockwerken Platte hatte sein Handy keinen Empfang.
Er starrte auf das Tor. Er hasste es, belogen zu werden.
Und wenn er ehrlich war: Er hasste die Platte.
Capri.
Er seufzte grimmig. Gedanken im Berliner Winter. Die Monate zwischen Oktober und April waren für Männer in seinem Alter gefährlich. Eine breite Einfallschneise für die Midlife-Crisis.
»Du würdest mir einen großen Gefallen tun, Lorenz.«
»Wenn was?«
»Wenn du für mich herausfändest, wann und wo er gestorben ist. Definitiv, nicht nur mutmaßlich.«
»Warum, Richard?«
»Weil er für mich einmal wichtig war.«
Nach einer kurzen Pause sprach Ehringer weiter.
Thomas Ćavar hatte ihn im Krankenhaus in Bonn und in der Reha in Baden-Württemberg besucht. Damals, du weißt schon. Hatte ihn einen Frühling und einen Sommer lang durch den Park geschoben. Ihm aus Rottweil von der Mutter selbst gemachte Ćevapčići mitgebracht. Ihm die ersten freundlichen Worte entlockt nach … Du weißt schon.
Adamek nickte.
Er öffnete das Tor mit der Funkfernbedienung, rollte langsam die Einfahrt hinunter. »Ich werde nicht in bosnischen Massengräbern rumwühlen.«
Ehringer lachte. »Einverstanden. Aber vielleicht …«
In diesem Moment brach die Verbindung ab.
Adamek parkte den Wagen und stieg aus. Der Aufzug ein Albtraum für müde Augen, auch hier hatte sich der ambitionierte Architekt ausgetobt. Drei Wände verspiegelt, ein Heer von Adameks, tausendfach leuchtete der halbkahle Schädel im Neonlicht, und die Tränensäcke schienen kurz vor dem Platzen.
Zwei Schritte, und man war um Jahre gealtert.
Er schloss die Augen, vollendete im Geiste den Satz des Onkels: Aber vielleicht in Rottweil?
5
SAMSTAG, 18. AUGUST 1990
ROTTWEIL
Thomas Ćavar zögerte den magischen Moment hinaus, solange es ging. Wieder und wieder umkreiste er den Ford. Seine Fingerspitzen glitten über den roten Lack, über glatte und rauere Stellen, über Rost und Kratzer, Wülste und Dellen.
Der langgezogene Kotflügel, die mächtige Motorhaube … Die Beule im anderen Kotflügel, Resultat einer winterlichen Kollision mit einem Schwarzwaldhirsch … Die Antenne rechts vor der Windschutzscheibe … Der Außenspiegel auf Jelenas Seite … Jelenas Hand …
Auf dem Fensterrahmen ihr bloßer Unterarm in der Sonne, weich und warm. Ihr vertrautes Lächeln, ein bisschen spöttisch und doch voller Zärtlichkeit.
»Ist nur ein Auto, Tommy.«
Er nickte. Sie wusste, was ihm das Auto bedeutete.
Langsam ging er weiter.
Der Griff der hinteren Tür, das kantige Heck, das Deutschland-D, schwarz auf weißem Grund. Das kühle chromfarbene Schloss der Heckklappe, die beiden Aufkleber, ICH BIN »LÖWENSTARK« und STUTTGARTER KICKERS , rau von Feuchtigkeit und
Weitere Kostenlose Bücher