Der Kampf mit dem Dämon
selbstbewahrend nach anfänglicher Selbstverschwendung. Nietzsche geht nun den umgekehrten Weg wie Goethe; strebt jener zu immer fülligerer Bindung seines Wesens, so drängt er zu immer leidenschaftlicherer Auflösung: wie alle dämonischen Charaktere wird er immer hitziger, unduldsamer, ungestümer, revolutionärer, chaotischer mit den fortschreitenden Jahren. Schon die äußere Lebenshaltung deutet den vollkommenen Rücklauf gegen gewohnte Entwicklung. Nietzsche beginnt damit, alt zu sein. Mit vierundzwanzig Jahren, während seine Kommilitonen noch Studentenulk treiben, mit den breiten Biergläsern Zerevis reiben und im Gänsemarsch auf den Straßen herummarschieren, ist Nietzsche schon wohlbestallter Professor, wirklicher Ordinarius der Philologie an der berühmten Universität Basel. Seine wahren Freunde sind damals die fünfzig- und sechzigjährigen Menschen, die großen und greisen Gelehrten, wie Jakob Burckhardt und Ritschl, sein Intimus, der ernste und erste Künstler der Zeit: Richard Wagner. Mit Gewalt unterdrückt er seine dichterischen Kräfte, den Aufstrom der Musik: wie nur irgendein verknöcherter Hofrat sitzt er gebückt über griechischen Handschriften, verfaßt Indices, begnügt sich an der Revidierung verstaubter Pandekten. DerBlick des beginnenden Nietzsche ist vollkommen nach rückwärts gewandt in die »Historie«, in Totes und Gewesenes, seine Lebensfreude vermauert in eine Alte-Männer-Manie, seine Heiterkeit, sein Übermut in eine professorale Würde, sein Blick in Bücher und gelehrte Probleme. Mit siebenundzwanzig Jahren bricht die »Geburt der Tragödie« einen ersten geheimen Stollen in die Gegenwart: noch trägt aber der Verfasser die ernste Maske der Philologie auf seinem geistigen Gesicht, und nur unterirdisch ist ein erstes Flackern darin von zukünftigen Dingen, ein erstes Entbrennen der Liebe zur Gegenwart, der Leidenschaft zur Kunst. Mit etwa dreißig Jahren, zu der Zeit, wo der normale Mensch seine bürgerliche Karriere erst inauguriert, in dem Alter, wo Goethe Staatsrat, Kant und Schiller Professoren wurden, hat Nietzsche seine Karriere bereits hinter sich geworfen und das Katheder der Philologie aufatmend verlassen. Es ist sein erster Abschluß gegen sich selbst, sein Abstoß in die eigene Welt, seine erste innere Umschaltung, und in diesem Aufhören ist des Künstlers eigentlicher Anfang. Der wahre Nietzsche beginnt mit seinem Einbruch in die Gegenwart, der tragische Nietzsche, der unzeitgemäße, mit seinem Blick in die Zukunft, mit seiner Sehnsucht nach dem neuen, dem kommenden Menschen. Dazwischen liegen ununterbrochene Schlagwetter von Verwandlungen, vollkommene Umstülpungen des innersten Wesens, der brüske Windwechsel von Philologie zur Musik, vom Ernst zur Ekstase, von sachlicher Geduld zum Tanz. Mit sechsunddreißig Jahren ist Nietzsche Prinz Vogelfrei, Immoralist, Skeptiker, Dichter und Musikant, »besser jung« als je in seiner Jugend, frei von aller Vergangenheit und eigenen Wissenschaft, frei schon von der Gegenwart und ganz Geselle des jenseitigen, des zukünftigen Menschen. Statt daß also die Jahre der Entwicklung wie bei dem normalen Künstler sein Leben stabilisieren, verwurzelter, ernster, zielhafter machen, lösen sie es nur leidenschaftlich von allen Bindungen und Beziehungen los. Ungeheuer, unvergleichbar ist das Tempo dieser Verjugendlichung. Mit vierzig Jahren hat Nietzsches Sprache, seine Gedanken, sein Wesen mehr rote Blutkörperchen, mehr frische Farbe, Verwegenheit, Leidenschaft und Musik als mit siebzehn, und der Einsame von Sils-Maria geht leichteren, beschwingteren, tanzhafteren Schrittes durch sein Werk als der frühere vierundzwanzigjährige, frühalte Professor. Bei Nietzsche intensifiziert sich alsodas Lebensgefühl, statt sich zu beruhigen: immer geschwinder, freier, flughafter, vielfältiger, spannkräftiger, boshafter, zynischer werden seine Verwandlungen; nirgends findet er mehr einen »Standpunkt« für seinen eilenden Geist. Kaum hat er sich wo eingewachsen, so »krümmt und bricht sich die Haut«: schließlich kommt er seinem eigenen Leben gar nicht mehr nach mit seinem Sich-selbst-Erleben, und die Veränderungen geraten allmählich in ein kinematographisches Tempo, wo das Bild ständig zittert und verflirrt. Gerade die ihn am nächsten zu kennen meinen, die Freunde seiner früheren Lebensalter, von denen fast alle festgenagelt sitzen in ihrer Wissenschaft, ihrer Meinung, ihrem System, staunen ihn immer fremder von Begegnung zu
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