Der Kampf mit dem Dämon
Geschichte seiner geistigen Fahrten, Umwendungen und Erhebungen, diese Jagd ins Unendliche, spielt durchaus im oberen, im geistig unbegrenzten Raum: wie ein Fesselballon, der ständig Last und Ballast abwirft, wird Nietzsche durch seine Entschwerungen, seine Loslösungen immer freier. Mit jedem abgekappten Tau, mit jeder abgeworfenen Abhängigkeit hebt er sich immer herrlicher auf zu weiterem Umblick, zu umfassender Schau, zu zeitloser, persönlicher Perspektive. Es gibt da unzählige Veränderungen der Richtung, ehe das Lebensschiff in den großen Sturm gerät, der es zerschellt: kaum kann man sie aufzählen und unterscheiden. Nur ein besonders schicksalswendender Augenblick der Entscheidungen hebt sich haarscharf und sinnlich im Leben Nietzsches ab: es ist gleichsam die dramatische Minute, da das letzte Tau abgelöst wird und das Luftschiff vom Festen ins Freie, vom Schweren ins unbegrenzte Element sich erhebt. Diese Sekunde in Nietzsches Leben bedeutet der Tag, da auch er den Standort verläßt, die Heimat, die Professur, die Profession, um nie mehr anders als im vorüberstreifenden, verächtlichen Fluge – ewig nun in anderem freieren Element – nach Deutschland zurückzukehren. Denn alles, was bis zu jener Stunde geschieht, ist für den wesentlichen, den welthistorischen Nietzsche nicht sonderlich belangvoll: die ersten Wandlungen bedeuten nichts als Vorbereitungen zu sich selbst. Und ohne jenen entscheidenden Abstoß in die Freiheit hinein wäre er bei aller Geistigkeit doch ein Gebundener geblieben, eine professorale fachmännische Natur, ein Erwin Rhode, ein Dilthey, einer jener Männer, die wir in ihrem Kreise ehren, ohne sie doch für unsere eigene geistige Welt als eine Entscheidung zu fühlen. Erst der Durchbruch der dämonischen Natur, die Entbindung der Denkleidenschaft, das Urfreiheitsgefühl macht Nietzsche zur prophetischen Erscheinung und verwandelt seinSchicksal in einen Mythus. Und da ich hier
sein Leben nicht als eine Historie, sondern als ein Schauspiel, durchaus als Kunstwerk und Tragödie des Geistes zu bilden versuche, beginnt für mich seine Lebenstat erst in dem Augenblick, da der Künstler in ihm beginnt und sich seiner Freiheit besinnt. Nietzsche im philologischen Puppenstand ist ein Philologenproblem: erst der Beflügelte, der »Luftschiffer des Geistes« gehört der Gestaltung.
Diese erste Entscheidung Nietzsches auf der Argonautenfahrt zu sich selbst ist der Süden: und sie bleibt die Verwandlung seiner Verwandlungen. Auch in Goethes Leben bedeutet die italienische Reise ähnlich scharfe Zäsur; auch er flüchtet nach Italien zu seinem wahren Selbst, aus Gebundenheiten in eine Freiheit, aus bloßem Weiterleben ins Erlebnis. Auch über ihn bricht beim Überschreiten der Alpen aus dem ersten Glanz der italienischen Sonne eine Verwandlung mit eruptiver Gewalt herein: »Mir ist«, schreibt er noch im Trento, »als ob ich von einer Grönlandfahrt zurückkehrte.« Auch er ein »Winterkranker«, der in Deutschland unter dem »bösen Himmel leidet«, auch er, eine durchaus auf Licht und höhere Helligkeit angelegte Natur, fühlt sofort ein elementares Aufschießen innersten Gefühls, ein Aufgelockert-, ein Losgelöstsein, einen Drang neuer, persönlichster Freiheit beim Betreten italienischen Bodens. Aber Goethe erlebt das Wunder des Südens zu spät, erst in seinem vierzigsten Jahr; die Kruste ist schon hart um seine, im letzten planhafte und besonnene Natur: ein Teil seines Wesens, seines Denkens ist zurückgeblieben in Weimar bei Hof und Haus und Würde und Amt. Er ist bereits zu stark in sich selbst kristallisiert, um noch jemals von irgendeinem Element vollkommen aufgelöst oder verwandelt zu werden. Sich überwältigen zu lassen, wäre gegen seine organische Lebensform: Goethe will immer Herr seines Schicksals bleiben, von den Dingen nur genau so viel nehmen, als er ihnen erlaubt (indes Nietzsche, Hölderlin, Kleist, die Verschwender, sich immer ungeteilt mit ganzer Seele jedem Eindruck hingeben, beglückt, von ihm ganz wieder ins Strömende, ins Feuerflüssige aufgelöst zu werden). Goethe findet in Italien, was er sucht, und nicht viel mehr: er sucht tiefere Zusammenhänge (Nietzsche höhere Freiheiten), die großen Vergangenheiten (Nietzsche die große Zukunft und die Loslösung von aller Historie); er forscht eigentlich nach den Dingen unter derErde: der antiken Kunst, dem römischen Geist, den Mysterien von Pflanze und Gestein (indes Nietzsche sich trunken und gesund blickt an
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