Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
dieser
Stadt aufgeweckt. Die Kaiserin persönlich! Sie muss glauben, dass wir belagert
werden.«
Nicolai blinzelte und versuchte, den
Mann genau zu sehen.
»Euch erwartet eine saftige Strafe!«
»Ich würde es immer wieder tun!«,
sagte Nicolai. Er hielt die Hände über den Kopf, als wolle er seine Fesseln
zerreißen. »Ich lasse mich in kein Gefängnis sperren!«
Remus ermahnte seinen Freund, er solle
sich beruhigen. »Die Zeit der Demut ist gekommen«, murmelte er. »Ich würde
lieber so kurz wie möglich im Gefängnis der Kaiserin verweilen.«
»Jahre!«, schrie der Kirchner. »Das
habt ihr vor euch. Seht nur, was ihr angerichtet habt!« Der Kirchner zeigte auf
den Boden der Kirche, wo kleine Scherben der bunten Glasfenster wie eine
Million Rubine glitzerten.
»Das kann doch repariert werden«,
sagte Nicolai. »Unser Tasso hier könnte das an einem Tag reparieren.«
»Kann er jedes Fenster in Wien
reparieren?«, brüllte der Kirchner.
»Besser als eine ganze Armee von Euren
schwachsin …«
»Nicolai!«, schrie Remus.
Der Kirchner wies die Soldaten an, die
drei Männer in das unangenehmste der kaiserlichen Gefängnisse zu bringen. Zwei
schoben Nicolai in Richtung Tür, je einer kümmerte sich um die anderen beiden.
Und die übrigen Soldaten marschierten hinterher. Ich kroch weiter um die Säule
herum, damit sie nicht auch mich verhafteten.
Schnell!, flehte ich im Stillen.
Und wie als Antwort auf mein Gebet
wurde in ebendiesem Moment die Kirchentür aufgestoßen und ein Mann eilte
hindurch. Unter einem langen warmen Mantel sah sein weißer Schlafrock hervor.
Sein Blick fiel auf die Soldaten und die Gefangenen. »Halt«, rief er. Er hob
beide Hände in die Höhe wie ein Dirigent, der Aufmerksamkeit erheischt.
Die Gruppe gehorchte seinem
nachdrücklichen Befehl. Der Kirchner starrte ihn an. Er sog die Luft ein.
»Chevalier!«
»Lasst diese Männer frei!« Gluck
brüllte, als spräche er zu dem fernen Altar. Er ging zu Nicolai. »Gebt mir den
Schlüssel!«, befahl er dem Soldaten, der ihm am nächsten stand. Der Mann
gehorchte und Gluck begann, die Fesseln zu öffnen.
»Aber Chevalier!«, sagte der Kirchner.
»Habt Ihr es nicht gehört? Es waren diese Männer, die die Glocke geläutet
haben!«
»Natürlich waren es diese Männer!«,
rief Gluck aus, immer noch, als spräche er zu einem fernen Publikum. »Ich habe
es nämlich befohlen!«
Nicolai war frei. Er rieb sich seine
Handgelenke und blickte ehrfürchtig auf den Komponisten.
»Ihr?«, stieß der Kirchner atemlos
hervor.
»Er?«, murmelte Nicolai.
»Ich!«, brüllte Gluck in den Himmel
hinauf. Er machte sich daran, Remus’ Ketten zu lösen. In einem unbeobachteten
Moment hatte Tasso die Ketten schon über seine Hände gezogen und legte sie
jetzt leise auf den Boden. Er flitzte hinter eine Säule.
»Aber warum?«, fragte der Kirchner.
»Warum?«
Gluck hielt in seiner Arbeit inne. Mir
schien es, als hielte er Remus’ Hände in seinen – wie es ein Liebhaber tun
würde. Er sah den Kirchner an. »Habt Ihr denn keine Ohren? Habt Ihr denn kein
Herz?«
»Ich … ich … doch«, stammelte der
Kirchner.
»Dann, mein Herr«, sagte Gluck
tadelnd, »schlage ich vor, dass Ihr zuhört, wenn die vollkommene Schönheit Euch
das nächste Mal in der Nacht ruft.«
XXV.
Tasso fuhr uns aus der
Stadt, als würden wir von allen Teufeln meiner Vergangenheit gejagt. Händler,
die frühmorgens unterwegs waren, sprangen erschreckt aus dem Weg, als wir nach
Westen rasten und auf die Straße nach Salzburg kamen. Aber schon in Hütteldorf
standen wir vor einem Problem. Das Kind fing an zu schreien. Dieses Mal half
Singen nichts. Tasso riet mir, meinen kleinen Finger in seinen Mund zu stecken,
was vorübergehend für Abhilfe sorgte, aber Remus wusste es natürlich genau:
Babys ernähren sich nicht nur von Fingern. Er befahl Tasso anzuhalten. Wir
befanden uns an einem trostlosen Ort. Die Wirtshäuser und Geschäfte an der
unebenen breiten Straße waren zwar recht ordentlich, aber die Dächer der
niedrigen Häuser in den engen Gassen, die von der Hauptstraße abgingen, hingen
durch, als wären sie mit Wasser getränkt. Die Sonne ging auf. Bald würden die Riechers
hinter uns her sein.
»Wir können nicht anhalten!«, beharrte
ich.
»Es ist nicht zu umgehen«, sagte
Remus. »Denk daran, unsere Verfolger suchen vier verarmte Männer und ein Kind.
Wir müssen uns wie die wohlhabenden Männer aufführen, die wir sind, und das
Kind so gut wie möglich verstecken. Sein
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